
Ein Tiroler verhindert im WM-Riesenslalom in Saalbach den totalen Schweizer Triumph. Raphael Haaser gewinnt völlig unerwartet Gold.
Marco Odermatt, natürlich er, der beste Riesenslalom-Fahrer der Gegenwart. Oder Loïc Meillard, einer der grössten Herausforderer des Nidwaldners. Oder vielleicht ein Norweger. Die Prognosen zielten mehrheitlich in diese Richtungen. Der Kampf zwischen Schweizern und Nordländern um die Medaillen im wichtigsten Riesenslalom des Winters hätte auch der Logik entsprochen.
Er wäre eine Fortsetzung gewesen von dem, was sich in diesem Winter in den bisherigen sechs Weltcup-Rennen in der Basis-Disziplin zugetragen hatte. Den vier Schweizer Siegen, den drei von Marco Odermatt und dem einen von Thomas Tumler, standen ein Dreifach- und ein Doppelerfolg der Norweger gegenüber.
Prinzip Hoffnung
Und die Österreicher? Ihre Namen fielen bei der Aufzählung von Medaillenkandidaten nicht sehr oft. Im Land des WM-Gastgebers wurden die eigenen Fahrer bestenfalls als «gefährliche Aussenseiter» gehandelt. Für allzu hohe Erwartungen war der Leistungsausweis im bisherigen Saisonverlauf zu gering, im Vergleich zu den Schweizern und den Norwegern sowieso.
Was blieb, war die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, einer der Eigenen möge über sich hinauswachsen, das Geflecht der Normalität durchbrechen, beweisen, dass an einem Tag, an dem alles zusammenpasst, das Pegel sehr wohl in unerwartete Richtungen auszuschlagen vermag.
Dieser Freitag war so ein Tag. Der Tag des Raphael Haaser. Mit der Startnummer 22 war er im ersten Durchgang auf Platz 5 vorgeprescht und hatte er sich die perfekte Ausgangsposition geschaffen, die Rolle des «gefährlichen Aussenseiters» perfekt zu Ende zu spielen. Der Tiroler packte die Gelegenheit beim Schopf, liess in der Entscheidung die «Fahrt seines Lebens» in einem Riesenslalom folgen – und behauptete sich gegen die höher kotierte Konkurrenz. Da fuhr einer zu WM-Gold, der im Weltcup noch sieglos ist und in Riesenslaloms noch nie über Rang 7 hinaus gekommen ist.
Im Schweizer Lager machte sich trotz den Plätzen 2 und 3 für Thomas Tumler und Meillard nicht die uneingeschränkte Zufriedenheit breit. Zu gut waren die Aussichten nach halbem Pensum für einen weiteren geschichtsträchtigen Erfolg gewesen. Die Zwischenränge 2 und 3 von Meillard und Odermatt schienen die perfekte Basis für den nächsten Rundumschlag zu sein. Ein bitteres Bild zeigte das Schlussklassement natürlich für Odermatt. Der als Titelverteidiger angetretene Blondschopf verpasste eine weitere Medaille um sieben Hundertstel.
Vorbild Kimi Räikkönen
Am anderen Ende der Gefühlsskala bewegte sich selbstredend Odermatts Nachfolger – auch wenn das mit den Gefühlen bei Haaser so eine Sache ist. Er blieb auch im Moment seines grössten Triumphs die Ruhe selbst. Er genoss im Stillen, wie es seinem Naturell entspricht. Der «Iceman», wie sie ihn im Team in Anlehnung an Kimi Räikkönen nennen, machte seinem Übernamen auch abseits der Piste alle Ehre. Kein Wunder, zählt er den Finnen zu seinen Vorbildern. Auch der einstige Formel-1-Weltmeister war kein Verfechter der grossen Worte.
Der sparsame Umgang mit Emotionen hat für Haaser auch Gutes – gerade in schwierigeren Zeiten. Die letzte unerfreuliche Phase liegt noch nicht allzu lange zurück. Begonnen hatte sie Mitte Dezember in Val d'Isère. In jenem Riesenslalom in Savoyen erlitt Haaser eine Kreuzbandverletzung, die sich glücklicherweise nicht als Riss herausstellte, aber eine sechs Wochen dauernde Pause nach sich zog.
Haaser kehrte vor drei Wochen in Kitzbühel in den Rennbetrieb zurück – und wie. Im Super-G wurde er hinter Odermatt Zweiter. Zweiter wurde er auch vor einer Woche im WM-Super-G, wiederum hinter Odermatt. Die innere Ruhe war dabei erneut gefragt, zumal es für Haaser ein Rennen unter besonderen Umständen war. Tags zuvor hatte sich seine Schwester Ricarda bei einem Sturz im Super-G der Frauen einen Kreuzband- und Meniskusriss im rechten Knie zugezogen.
Eine Woche später machte Haaser die «märchenhaften Tage in Saalbach» perfekt. Aus Silber wurde Gold. Auf das Unerwartete folgte die Überraschung. Haasers innere Freude war wieder da. «Es gibt Wichtigeres auf der Welt», sagte er nur, selbstverständlich mit der nötigen Gelassenheit. Da ändern auch über den Haufen geworfene Prognosen nichts.