Im Interview spricht Dani Wermelinger, Leiter des Ressorts Spitzenschiedsrichter beim Schweizerischen Fussballverband, über Zufriedenheit, Beleidigungen und Herausforderungen.
Zu Beginn der kurzen Winterpause gönnt sich Dani Wermelinger ein paar ruhige Tage in den Bergen. Im Gespräch mit Keystone-SDA blickt der 52-jährige Aargauer auf eine Hinrunde zurück, die ihn insgesamt sehr zufrieden stellt.
Dani Wermelinger, wir treffen uns im Walliser Bergdorf Grächen. Sind Sie froh, dass der FC Sion abgestiegen ist?
(lacht) Der FC Sion ist eine Mannschaft wie jede andere. Wer auf- oder absteigt, entscheidet sich auf dem Platz. Am Schluss muss jede Mannschaft die nötigen Punkte holen, um nicht abzusteigen oder Meister zu werden. Ich habe da definitiv keine Präferenzen.
Ich frage, weil es in diesem Herbst viel ruhiger war um die Schiedsrichter als im Frühjahr. Das liegt also nicht am Fehlen des FC Sion in der Super League?
In der Rückrunde der letzten Meisterschaft waren wir wirklich nicht gut. Wahrscheinlich nicht so schlecht, wie wir gemacht wurden, aber eben auch nicht gut. Wir haben Handlungsfelder ausgemacht und diese in der Sommerpause auch intern gut reflektiert mit unseren Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern. Wir können sagen, dass wir an den richtigen Schrauben gedreht haben. Dass wir insgesamt wieder mehr Ruhe haben, liegt sicher daran, dass wir auch in Volketswil (wo der VAR arbeitet) wieder mehr Ruhe haben.
Sie hatten auch öffentlich einen gewissen Aktivismus im Video Operation Room kritisiert.
Ja, wir waren in Volketswil zu detektivisch unterwegs. Wir hatten zwei gute Saisons, und der VAR wollte noch besser werden. Man wollte von 96 auf 98 Prozent kommen und hat dann zu genau hingeschaut.
Wie ist die öffentliche Kritik bei Ihren Leuten angekommen?
Ich erlebe unsere Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter als sehr kritisch, sie waren selber nicht zufrieden mit den Leistungen. Wenn man weiterkommen will, muss man Sachen klar ansprechen. Wichtig ist, dass man dies zuerst intern macht und dann auch medial anspricht.
Und nun sind Sie zufrieden? Über die Intervention des VAR bei der Roten Karte am letzten Sonntag in Genf gegen Luganos Johan Nkama konnte man geteilter Meinung sein.
In dem Fall war die Frage Absicht oder nicht Absicht. Am Ende kann dies nur der Spieler beantworten. Das ist ein Fall, den wir auch intern intensiv diskutieren. Da kann man auf beide Seiten Argumente finden. Verärgert war ich in der letzten Rückrunde, aber jetzt bin ich sehr stolz auf unser Kader, wie es reagiert hat. Auch auf die 206 internationalen Einsätze unserer Leute in der Vorrunde.
Welche besonders?
Sandro Schärer war letzte Woche in der Champions League bei Inter Mailand gegen San Sebastian, Urs Schnyder pfiff in der EM-Qualifikation Frankreich – Irland und wurde am Mittwoch von der UEFA in die Gruppe 1 promoviert, Fedayi San ist regelmässig bei der FIFA und der UEFA als VAR im Einsatz und Esther Staubli war im Sommer bei der Frauen-WM und hat das Spiel Aserbaidschan – Schweden in der EM-Qualifikation der Männer geleitet. Das ist sehr positiv und eine Bestätigung unserer harten Arbeit. Aber wir müssen demütig bleiben.
Die Diskussionen haben nicht unbedingt abgenommen. Hat der VAR die Erwartungen erfüllt?
Also für mich zu hundert Prozent, der VAR ist nicht mehr wegzudenken. Er hat geholfen, den Fussball gerechter zu machen. Die Erkenntnis ist, dass sich das Problem jetzt nach Volketswil verlagert hat. Früher hat man über die Schiedsrichterleistungen im Stadion geredet, heute viel mehr über die VAR-Entscheide. Auf dem Platz hat es Menschen und in Volketswil hat es Menschen, und wo Menschen arbeiten, besteht immer ein Restrisiko für Fehler. Wir haben vielleicht unterschätzt, dass die Zuschauer im Stadion oder am Fernseher von einer Null-Fehler-Kultur ausgehen. Ok, jetzt haben wir einen Airbag, der immer aufgeht, und das ist einfach nicht so. Entscheide, die nicht hundert Prozent klar sind, geben immer auf der einen oder anderen Seite Diskussionen, das gehört dazu.
Gibt es schon Zahlen, wie sich die VAR-Interventionen entwickelt haben?
Es sind 0,37 Reviews pro Spiel, noch wesentlich weniger, wenn man die Entscheide aufgrund der kalibrierten Offside-Linie abzieht. Damit sind wir auch international im Quervergleich wieder auf der positiven Seite.
Letzte Woche holte FCB-Captain Fabian Frei im TV-Interview zu einem Rundumschlag aus. Verfolgen Sie solche Sachen?
Ich schätze Fabian sehr. Und ich verstehe auch, dass nach einem Spiel emotional aufgewühlt das eine oder andere Wort fällt. Führungsspieler wie Fabian Frei müssen sich aber auch bewusst sein, was sie mit gewissen Aussagen lostreten können. Wir haben diese Interviews auf dem Radar, und wenn sie eine gewisse Grenze überschreiten, scheuen wir uns auch nicht davor, Konsequenzen einzufordern.
Spüren Sie Auswirkungen solcher Äusserungen?
Natürlich. Emotionale Aussagen von Spielern und Trainern lösen sehr viele Reaktionen aus. Wir hatten noch nie so viele Drohungen über die verschiedenen Kanäle. Es gibt Schiedsrichter, deren Leben bedroht wird. Wir verfolgen solche Drohungen intensiv und haben auch schon Anzeige erstattet.
Der Kalender wird immer enger, die Drohungen nehmen zu. Finden Sie überhaupt noch genug Schiedsrichter?
Du musst eine dicke Haut haben, um diesen Job gerne zu machen, und einen gewissen Idealismus in dir haben. Die Führungseigenschaft von 22 total verschiedenen Charakteren auf dem Platz bringt dir auch privat etwas. Deshalb empfehle ich jedem Mädchen, jedem Buben, eine Schiedsrichter-Karriere ins Auge zu fassen. Da kannst du so viel mitnehmen, so viel Positives erleben und dir Führungserfahrung auf höchstem Niveau aneignen.
Aber daneben noch 50 Prozent zu arbeiten, wie das viele müssen, ist eigentlich kaum machbar.
Das ist im Moment für mich das grösste Spannungsfeld. Ein Super-League-Schiedsrichter kann heute eigentlich noch bis zu einem Pensum von 80 Prozent arbeiten, weil wir uns finanziell nicht mehr leisten können. Was wir merken: Wir haben immer mehr Verletzte, die Leute sind immer angespannter. Die Regeneration kommt zu kurz. Wir müssen jetzt alle überlegen – der Verband, die Swiss Football League, wir Schiedsrichterverantwortlichen -, welche Möglichkeiten wir haben. Immer unter Berücksichtigung, dass die finanzielle Situation bei allen angespannt ist. Denn so wie jetzt kann es in den nächsten fünf Jahren nicht weiter gehen. Wenn wir unsere Leute am Ende nicht mehr einsetzen können, weil sie verletzt oder mental ausgelaugt sind, dann geht das nicht. Nehmen wir Sandro Schärer: Letzte Woche stand er am Dienstag in Mailand im Einsatz. Er braucht eine Vorbereitung, eine Nachbearbeitung. Dass er nachher eine gewisse mentale Müdigkeit verspürt, ist verständlich. Wir sind mit der Problematik konfrontiert, dass unsere Leute körperlich und mental ausgelaugt sind.
Am Ende ist es eine Frage des Geldes.
Ja, wir müssen aber unter Berücksichtigung der Ausgangslage, in der wir stecken, einen weiteren Schritt Richtung Professionalisierung machen. Wir nehmen die Gespräche auf und schauen, was wir erreichen können. Ich habe absolutes Verständnis, dass die Klubs und der Verband auch jeden Franken umdrehen müssen, aber alle zusammen müssten wir jedes Interesse haben, die bestmögliche Leistung zu liefern. Mit jedem internationalen Einsatz werden unsere Schiedsrichter besser, aber dann musst du auch schauen, wie du sie noch in der Schweiz einsetzen kannst, ohne dass sie ausgelaugt sind. Samstag/Sonntag bist du bei uns, dann fliegst du drei Tage weg für Europacup, am Wochenende wieder bei uns. Im Moment stimmt diese Work-Life-Balance nicht. Diese Sachen machen mir Sorgen. Ein Schiedsrichter kann nicht zur Schonung auch mal ausgewechselt werden. Es fordert ja keiner, dass die Schiedsrichter wie Fussballer bezahlt werden. Aber du kannst auch nicht Champions League pfeifen und wie in der 3. Liga verdienen. International, in den grossen Ländern, hat der Schiedsrichter als Beruf einen anderen Stellenwert als in der Schweiz.
Wie stehen Sie Neuerungen wie einer Coaches Challenge oder einem Mikrofon für Schiedsrichter wie zum Beispiel im Rugby gegenüber?
Wir sind da sehr offen. Das Reglement sieht das im Moment nicht vor, also ist es derzeit kein Thema. Wir machen uns dazu natürlich Gedanken und sind auch im stetigen Austausch mit Regelexperten aus den Nachbarländern und dem IFAB. Wir müssen uns kommunikativ weiterentwickeln und den Zuschauern noch besser den Weg zu einem Entscheid aufzeigen.