Am 5. Juli feierte Martina Hingis im Alter von 16 Jahren und 9 Monaten ihren ersten und letztlich einzigen Wimbledon-Titel. Jünger war ausser Lottie Dod 1887 keine Frau.
Wer kennt heute noch Lottie Dod? Ein paar Tennishistoriker – und Martina Hingis. Die Engländerin gewann 1887 das erst drei Jahre zuvor eingeführte Frauenturnier in Wimbledon im Alter von 15 Jahren. Seither gelang dies nur noch der Schweizerin vor Ablauf des 17. Lebensjahres. Und weil sie 1997 die erste Frau seit mehr als einem Jahrhundert war, der dies gelang, beschäftigte sich Hingis eben auch mit dieser Lottie Dod.
«Ich habe sogar ein Fotoshooting im Originalkleid von Lottie Dod gemacht», erinnert sich die heute 39-jährige Ostschweizerin beim Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA in Wollerau, wo sie Junioren unterrichtet, lachend. «Und es passte sogar.» Darin sieht Hingis auch eine Erklärung für Dods Sieg. «Weil sie erst 15-jährig war, durfte sie in einem knöchellangen Kleid spielen, während die der anderen fast bis zum Boden reichten.» Das sei sicher ein Vorteil gewesen. «Aber Tennis spielen konnte sie sicher auch.» Immerhin gewann Dod in den Folgejahren noch vier weitere Male.
Hingis brauchte im Sommer 1997 keine speziellen Vorteile, sie war einfach mit Abstand die beste Spielerin der Welt. Der 5. Juli ist für sie auch nicht ein spezielles Datum. «Das ist vielmehr der 31. März, als ich erstmals die Nummer 1 wurde.» Dieser Altersrekord, 16 Jahre und 152 Tage, dürfte angesichts der geltenden Restriktionen noch lange bestehen bleiben. Der Einzeltitel in Wimbledon (im Doppel und Mixed gewann sie fünf weitere) bedeutet Hingis aber dennoch sehr viel.
Auch vor dem Final gut geschlafen
Sie hatte im Jahr 1997 von den ersten 36 Einzeln 35 gewonnen, die einzige Niederlage kam im Final des French Open gegen die überraschende Iva Majoli. Hingis war am Ende ihrer Kräfte, nachdem sie sich nur sieben Wochen zuvor bei einem Reitunfall einen Kreuzbandanriss im linken Knie zugezogen hatte. «In Wimbledon war ich wieder die Topfavoritin und wollte meinen Status bestätigen.»
Richtig unter Druck habe sie sich aber nicht gefühlt – auch nicht vor dem Final, den sie ohne Satzverlust erreicht hatte. «Dass ich schlecht schlafe, kam nur sehr selten vor», erinnert sich Hingis. «Einzig später im Jahr vor dem US-Open-Final gegen Venus Williams war ich sehr nervös und schlief nicht gut.» Gegen Williams sei es auch um die Rangordnung unter Gleichaltrigen gegangen (Hingis gewann am Ende 6:0, 6:4). «Denn nur wegen des Rankings hatte ich nie das Gefühl, dass ich gewinnen müsste.»
Die damals 28-jährige Wimbledon-Finalgegnerin Jana Novotna war eine Veteranin aus einer anderen Generation. «Gegen sie dachte ich: Wenn ich in diesem Jahr nicht gewinne, dann halt nächstes Jahr», so Hingis. Es war dann die im Alter von nur 49 Jahren an Krebs verstorbene Novotna, die im Jahr darauf doch noch siegte.
1993 hatte die Tschechin mit dem eleganten Angriffstennis einen denkwürdigen Final nach 4:1-Führung im dritten Satz verloren und sich an der Schulter der Herzogin von Kent ausgeweint. Auch Hingis geriet mit dem verlorenen erste Satz ins Hintertreffen. «Ich dachte mir: So schlimm wie beim letzten Mal wird es wohl nicht werden mit ihrem schweren Arm, aber es machte mir schon Hoffnung.» Zurecht, denn die Ostschweizerin setzte sich am Ende 2:6, 6:3, 6:3 durch.
Abendkleid als Belohnung
Was für Hingis auf den Triumph folgte, weiss sie noch genau. «14'000 Zuschauer stehen auf und klatschen. In Wimbledon ist alles sehr speziell, mit der Royal Family und der Herzogin von Kent, die die Siegerschale überreicht», betont sie. «Und diese kann ja auch nicht jede in der Hand halten.» Am Sonntag ging sie dann in London einkaufen, um ein passendes Kleid für das traditionelle Champions Dinner zu haben. «Das hatte ich mir verdient», sagt sie lachend. Und sie fürchtete sich vor dem Tanz mit dem Männersieger Pete Sampras. «Ich wusste nicht, dass es diesen Tanz nicht mehr gab.»
Rückblickend stellt die fünffache Major-Siegerin im Einzel fest: «Wimbledon ist nicht wichtiger als die anderen Grand-Slam-Titel. Aber ich bin froh, dass ich ihn habe.» Hingis macht keinen Hehl daraus, dass es sie noch immer wurmt, dass der French-Open-Titel in ihrer ansonsten vollständigen Sammlung fehlt. «Da hätte ich schon auch gerne gewonnen. Einen der drei Australian-Open-Siege würde ich dafür eintauschen, den von Wimbledon aber nicht.»
Tennis spielt Hingis noch immer sehr gut. Sie hat in diesem Jahr auch noch einige Ziele. Am 25. Juli spielt sie im Rahmen des Swiss Tennis Pro Cups in Biel ein Legenden-Einzel gegen Patty Schnyder. Und ab dem 28. August tritt sie mit dem TC Zug im NLB-Interclub an. Daneben ist es aber das 16 Monate alte Töchterchen Lia, das ihr Leben bestimmt und auch beim Tennistraining – betreut von Grossmami Melanie Molitor – zuschaut.