US-Open-Champion Freudentränen bei Andreescu: «Ich visualisierte das jeden einzelnen Tag»

Von Luca Betschart, New York

8.9.2019

Für die verblüffende Bianca Andreescu geht mit dem Finalsieg über Serena Williams an den US Open ein Traum in Erfüllung. An der Pressekonferenz scheint sie plötzlich zu realisieren, welche Meisterleistung ihr in New York geglückt ist.

So manch einer dürfte sich am Samstag während des Endspiels der US Open verwundert die Augen gerieben haben, als die erst 19-jährige Bianca Andreescu die grosse Serena Williams regelrecht an die Wand spielt. Gegen die beinahe doppelt so alte Amerikanerin zeigt die Kanadierin bis zum Stand von 6:3 und 5:1 absolut keine Nerven und braucht zwischenzeitlich nur noch einen Punkt zum Sieg. Dann allerdings scheint die abgebrühte Kanadierin doch noch ins Zittern zu kommen.

Gegen eine 23-fache Grand-Slam-Siegerin, die mit dem Publikum im Rücken noch einmal alle Kräfte mobilisiert, muss Andreescu ihren deutlichen Vorsprung noch preisgeben und den Ausgleich zum 5:5 hinnehmen – unter ohrenbetäubendem Jubel im rappelvollen Arthur-Ashe-Stadion. «Sie begann, viel besser zu spielen und ich denke, die Zuschauer halfen ihr auch», blickt Andreescu nach der Partie zurück. Sie hält sich in dieser Phase nach einem Punkt sogar die Ohren zu: «Es war sehr, sehr laut. Ich habe versucht, den Lärm auszublenden und einfach an meiner Taktik festzuhalten.» Ein schwieriges Unterfangen, das der Kanadierin allerdings ausgezeichnet glückt.

Nach vier verlorenen Games in Serie kann sie den Lauf ihrer Kontrahentin stoppen, bringt den eigenen Aufschlag durch und versetzt Williams anschliessend in deren Aufschlagsspiel den Todesstoss. Dank einem weiteren hervorragenden Vorhand-Return verwandelt sie ihren dritten Matchball und schreibt als erste kanadische Grand-Slam-Siegerin Tennisgeschichte.



Williams in Andreescus Garderobe zu Besuch

An der Pressekonferenz nach der Partie macht sie deutlich, wie viel ihr dieser erste Major-Sieg bedeutet – vor allem auch, weil auf der anderen Seite eine der Grössten dieses Sports stand. «Serena ist eine Inspiration für sehr viele Menschen, nicht nur Athleten. Auch was sie neben dem Court geleistet hat – sie ist ein wahrer Champion», schwärmt Andreescu. Williams zeigt sich als faire Verliererin und besucht die Siegerin nach dem Spiel in ihrer Garderobe. «Sie sagte einige sehr nette Dinge, die ich für sehr lange schätzen werde.»

Trotz dem sehr grossen Respekt für Williams verblüfft Andreescu mit ihrem beinahe noch grösseren Selbstbewusstsein – auf dem Court, aber auch vor der Presse: «Ich bemühte mich immer, so zu sein, wie sie. Aber wer weiss? Vielleicht kann ich sogar noch besser sein.»

Freudentränen an der Pressekonferenz

Eine Frage bringt den Teenager dann schliesslich doch noch kurzzeitig aus der Fassung. Als sich ein Journalist erkundigt, wie sie sich das Duell mit Williams im Vorfeld dieses Endspiels vorgestellt habe, sagt Andreescu: «Das war nicht das erste Mal, dass ich visualisierte, wie ich gegen Serena einen Final spiele. Es ist so verrückt, ich habe…» Doch bevor sie weitersprechen kann, vergräbt die 19-Jährige das Gesicht in ihren Händen und kann die Freudentränen nicht mehr zurückhalten. Es scheint, als würde sie in diesem Moment realisieren, was sie an diesem Samstag in Flushing Meadows erreicht hat.

Nach kurzer Pause fängt sich die Kanadierin und führt aus: «Ich habe die längste Zeit von diesem Moment geträumt. Nachdem ich den Orange Bowl gewonnen hatte (ein prestigeträchtiger Juniorentitel, den Andreescu 2015 in der U-18 Kategorie errang, Anm. d. Red.), glaubte ich wirklich daran, dass ich es auf diese Bühne schaffen könnte. Seitdem visualisierte ich das beinahe jeden einzelnen Tag, um ehrlich zu sein.» Dass dies nun Realität geworden ist, sei einfach unglaublich. Andreescu scherzt: «Ich denke, diese Visualisierungen funktionieren wirklich.» 

Und als ihr Trainer, Sylvain Bruneau, kurz darauf vor versammelter Presse ebenfalls noch mit einer Trophäe ausgezeichnet wird, hat der Teenager seine Coolness definitiv wiedergefunden – ganz im Gegensatz zu ihrem Coach, der seinen Pokal anfangs verkehrt herum hält. «Ich bin mir das nicht gewohnt», erklärt der 54-Jährige seinen Fauxpas. Andreescu entgegnet mit einem breiten Grinsen: «Dann gewöhnst du dich besser daran.»

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