Die Corona-Pandemie wirft die Karriere-Pläne von Stefan Bissegger gehörig über den Haufen. Für den aufstrebenden Thurgauer entwickelt sich der Schritt zum Radprofi zu einer Fahrt ins Ungewisse.
Die Absicht war klar, als Stefan Bissegger im September des letzten Jahres seinen ersten Profivertrag unterzeichnete: Bis zu den Olympischen Spielen 2020 wollte der 22-Jährige seinen Fokus auf die Bahn legen und danach den definitiven Wechsel auf die Strasse vollziehen; als Teil der amerikanischen World-Tour-Mannschaft Education First, die ihn mit einem bis Ende 2022 laufenden Vertrag ausstattete.
Doch anstatt mit dem Schweizer Bahnvierer in Tokio in diesen Tagen um eine olympische Medaille zu fahren, weiss Bissegger momentan nicht, wie es für ihn auf der Bahn weitergeht. Die Olympischen Spiele wurden bekanntlich wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr in den nächsten Sommer verschoben. Bissegger will sich heute noch nicht darauf festlegen, ob er dann noch Teil des Bahn-Projekts von Swiss Cycling sein wird. «Ich werde im Winter einen Entscheid treffen, und dieser muss gut überlegt sein», hält er am Telefon gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA fest.
Noch gebe es zu viele offene Fragen, zum Beispiel was den Rennkalender anbelangt. Sein Team sei jedoch nicht abgeneigt von der Idee einer Olympia-Teilnahme, meint Bissegger, der wegen seiner starken Physis auch «Muni» genannt wird. Letztlich gilt es für den Junioren-Weltmeister von 2016 in der Einzelverfolgung auch abzuwägen, wie sehr ihn eine Rückkehr auf die Bahn allenfalls in der Entwicklung als Strassenfahrer beeinträchtigt.
Eines ist für den in Frauenfeld wohnhaften Thurgauer jedoch klar: «Wenn ich nach Tokio gehe, dann mit dem klaren Ziel, eine Medaille zu gewinnen.» Dies scheint für die Schweizer in der Mannschaftsverfolgung über 4000 m nicht unmöglich zu sein. 2019 setzten sie ihren Aufwärtstrend mit dem ersten Weltcupsieg und dem Unterbieten der 3:50er-Marke fort – die Olympia-Qualifikation als eine der besten acht Nationen war die logische Folge. Bissegger ist sich allerdings bewusst, dass «alles zusammenpassen muss, damit in Tokio eine Medaille drin liegt. Jede Bewegung, jedes Detail muss von jedem einzelnen perfekt sitzen, dass am Ende das Maximum raus kommt.»
Nationaltrainer Gisiger bleibt an Bord
Mit einem Ausstieg von Bissegger würde der Schweizer Bahnvierer sein Zugpferd verlieren. Der Verlust des gelernten Velomechanikers würde zwar nicht so schwer wiegen, wie jener von Stefan Küng nach dessen folgenschwerem Sturz vor Rio 2016. Die Leistungsdichte im Schweizer Bahnkader ist heute viel höher als noch vor vier Jahren. Ohne Bissegger wäre das Schweizer Quartett aber dennoch deutlich geschwächt.
Bahn-Nationaltrainer Daniel Gisiger wird deshalb alles daran setzen, um Bissegger von einer Olympia-Teilnahme zu überzeugen. Der Bieler selbst wäre nach Tokio 2020 bei Swiss Cycling eigentlich in Pension gegangen. Es besteht aber beidseitiges Interesse, die Zusammenarbeit um ein Jahr zu verlängern. Unter welchen Rahmenbedingungen ist noch unklar. Für den Bahnradsport in der Schweiz wäre es äusserst erstrebenswert, auch über 2021 hinaus vom enormen Erfahrungsschatz Gisigers profitieren zu können.
Vorerst keine World-Tour-Einsätze geplant
Für Bissegger liegt die sportliche Zukunft mittelfristig zweifelsohne auf der Strasse. Bei seinem ersten Renneinsatz nach der Corona-Pause belegte er vor drei Wochen an den Schweizer Zeitfahr-Meisterschaften hinter Stefan Küng und Silvan Dillier den starken 3. Rang. Nun folgt für ihn nach einem zweieinhalbwöchigen Höhentrainingslager im Engadin die erste internationale Bewährungsprobe seit über einem halben Jahr.
Mit der Schweizer Nationalmannschaft steht Bissegger ab Freitag an der Tour de l'Ain im Einsatz. Im Vorjahr gewann er im Mehretappenrennen im französischen Jura das erste Teilstück. Heuer ist die drei Etappen umfassende Rundfahrt so stark besetzt wie noch nie. Zahlreiche Topfahrer wie Egan Bernal, der letztjährige Sieger der Tour de France, wollen drei Wochen vor dem Start der Frankreich-Rundfahrt ihre Form testen.
Bevor sich Bissegger mit Education First auf allerhöchster Stufe beweisen kann, muss er sich noch etwas gedulden. Die Idee seiner Chefs ist es, dass er sich langsam an das Niveau herantastet. «Vielleicht gibt es nach der WM im September oder Oktober ein oder zwei Rennen auf Stufe World Tour», erklärt Bissegger, der sich als Puncher mit relativ guten Fähigkeiten im Sprint bezeichnet.
Ein Ziel bleibt auf jeden Fall die Heim-WM in Aigle und Martigny, wo er im Zeitfahren der U23-Kategorie den WM-Titel anstrebt. Bei den Titelkämpfen vor einem Jahr gewann Bissegger im U23-Strassenrennen aus einer Spitzengruppe heraus im Sprint die Silbermedaille. Nur wenig fehlte, und er wäre der Nachfolger von Marc Hirschi geworden. Beide haben Jahrgang 1998 und sollen möglichst bald auch bei der Elite für Furore sorgen.