Daniel Giubellini wurde vor 30 Jahren in Lausanne Europameister am Barren. Der unerwartete Titelgewinn war nicht nur für den Zürcher selber Gold wert.
Da war nicht nur zusätzlicher Druck, den ein Auftritt vom heimischem Publikum mit sich bringt. Die Belastung in jenen Tagen im Mai 1990 hatte für die Schweizer Kunstturner eine ganz andere Dimension. Giubellini und seine Kollegen standen auf dem Prüfstand, die Messlatte lag extrem hoch. Das Abschneiden an der EM im Waadtland war mitentscheidend für den weiteren Verlauf des Projekts mit dem Fernziel Olympische Spiele 1992 in Barcelona. Von den Leistungen hing vorab die Aufstockung des Budgets ab, das Gewähr für die Schweizer Spitzenturner bot, sich weiterhin als Berufssportler unter optimalen Bedingungen auf den Höhepunkt in Katalonien vorbereiten zu können.
Giubellini und auch der Glarner René Plüss, der mit dem Gewinn der Silbermedaille am Reck zum Abschluss eines denkwürdigen Wettkampftages ebenso unerwartet seinen Teil beitrug, zeigten sich von der Last der beträchtlichen Verantwortung unbeeindruckt, die Nervosität war kein Faktor. «In dem Moment, an dem du ans Gerät gehst, blendest du alles aus. Du konzentrierst dich auf deine Übung», erzählte Giubellini einmal. Er habe keinerlei Druck gespürt. «Es war ja schon eine Überraschung, dass ich im Final der besten acht dabei war.»
Die neuerliche Steigerung
Die Qualifikation hatte Giubellini gerade noch als Achter geschafft. Im Kampf um die Medaillen wuchs er dann förmlich über sich hinaus. Jedes Element der Übung gelang ihm noch eine Spur besser als am Tag zuvor. 9,80 Punkte waren der Lohn für die bestechende Vorführung. Danach begann das grosse Warten. Einer nach dem anderen scheiterte an der Marke Giubellinis, der als Dritter gestartet war. Mit jedem Konkurrenten rückte die Medaille näher. Und als der russische Topfavorit Valentin Mogilny mit der gleichen Note bewertet wurde, war die Sensation perfekt. Die Schweiz hatte zum ersten Mal seit 31 Jahren und Ernst Fivian wieder einen Europameister im Kunstturnen. Der Thuner hatte 1959 in Kopenhagen Gold am Boden gewonnen.
Giubellini nahm das unerwartete Verdikt gelassen hin – so halt, wie es seinem Naturell entsprach. Der ruhige, introvertierte und gläubige Meilemer genoss seinen Triumph im Stillen. Selbst bei der Siegerehrung bewahrte er Haltung. Seine Gefühle in den Minuten, in dem die Aufmerksamkeit auf dem Podium ganz allein ihm galt, gab Giubellini Jahre später treffend preis. «Ich bin nicht der emotionale Typ. Tränen sind keine geflossen, doch tief in mir drin ist einiges abgegangen.»
Die unerwarteten Medaillengewinne in Lausanne brachten dem Schweizer Kunstturnen die öffentliche Wahrnehmung zurück. Für die Athleten selber war es trotz der unverhofften Glücksmomente lediglich ein erster Schritt Richtung Barcelona. Giubellini, Plüss und Co. hatten die massgebende Phase noch vor sich. Ihr Fokus war deshalb schnell einmal auf die WM in Indianapolis gerichtet.
Die gesicherte Zukunft
Ein ganzes Jahr hatten sie sich auf die besondere Vorgabe einstellen können, dass es in der Hauptstadt des amerikanischen Bundesstaates Indiana nicht nur um die Teilnahme mit dem Team an den Olympischen Spielen, sondern auch um die Zukunft des Kunstturnens als Spitzensport im eigenen Land ging. Sie meisterten auch diese Aufgabe – wenn auch mit einigem Zittern. Mit Platz 11 war die für die Startberechtigung in Spanien notwendige Klassierung unter den besten zwölf erreicht.
Die Erleichterung war der Bedeutung des erfüllten Kriteriums angemessen. Bei einem Scheitern wäre das aufwändige Olympia-Projekt umgehend eingestellt, Nationaltrainer Bernhard Locher nach nur zwei Jahren im Amt entlassen worden. Hart getroffen hätte es im Besonderen die Athleten selber. Deren Verträge mit dem nationalen Verband wären mit einem Schlag nichtig geworden, die Turner von einem Tag auf den andern ohne Perspektive dagestanden.
Für den schlimmsten Fall wäre Giubellini gewappnet gewesen. Der Zürcher übte seinen Sport nie als Profi aus. Dem Absolventen einer Handelsschule war die zivile Berufswelt ebenso wichtig. Ganz dem Kunstturnen verschrieb er sich lediglich in den Monaten vor Grossanlässen. Dannzumal verlegte er seine Trainingsbasis von Zürich nach Magglingen und liess sich bei der damaligen Schweizerischen Bankgesellschaft freistellen.
Der frühe Rücktritt
Dem ständigen Wechsel zwischen den Fronten, dem Abwägen zwischen Beruf und Spitzensport, setzte Giubellini bald ein Ende. Zehn Monate nach den Olympischen Spielen in Barcelona trat er im Alter von erst 24 Jahren vom Kunstturnen zurück. Nach seiner Heirat verlegte er den Wohnort in den Aargau, den Heimatkanton seiner Frau, und absolvierte ein Studium in Betriebsökonomie. Nach einem Branchenwechsel ist er seit längerem beim Versicherungsunternehmen Swiss Life als Geschäftsführer Vorsorgestiftungen tätig.
Mit dem Kunstturnen ist Giubellini durch seine Kinder verbunden geblieben. Der 17-jährige Luca, der 15-jährige Matteo und die 13-jährige Chiara gehören den Schweizer Nachwuchskadern an, der 10-jährige Elio eifert seinen Geschwistern im TV Eien-Kleindöttingen nach.
Giubellini lässt seinen Nachwuchs gewähren. Druck setzt er keinen auf. Der käme im Spitzensport noch früh genug. Der Papa weiss das selber nur zu gut.