Thibaut Pinot ist Frankreichs tragischer Held bei der Tour de France. Sein neuerliches Scheitern in den Pyrenäen ist die Fortsetzung der Geschichte eines ewigen Unglücksraben.
«Nicht schon wieder!«, dachten sich Frankreichs Radsportfans am letzten Samstag, als Thibaut Pinot in der 8. Etappe das Tempo der Besten um Primoz Roglic und Vorjahressieger Egan Bernal nicht mitgehen konnte. Schnell kamen Erinnerungen an das vergangene Jahr hoch, als Pinot in aussichtsreicher Position am drittletzten Tag die Frankreich-Rundfahrt wegen einer Oberschenkelverletzung hatte aufgeben müssen. Statt dem erhofften Gesamtsieg blieben dem Franzosen nur die Tränen.
Während Pinots Traum vom Maillot jaune am Samstag im Aufstieg zum Port de Balè erneut zerbrach, bildeten seine Teamkollegen von Groupama-FDJ einen Kreis um ihren Captain, als wollten sie ihn beschützen. Stefan Küng legte seinen Arm um Pinots Schultern und spendete ihm Trost.
Die französische Sportzeitung «L’Équipe» titelte am Sonntag: «Ein Tag in der Hölle mit Thibaut Pinot.» So dürften sich die letzten 40 km für den französischen Mitfavoriten angefühlt haben. Bis ins Ziel nach Loudenvielle büsste er gut 19 Minuten auf Roglic und Co. ein. «Mein Rücken tat so weh, dass ich keine Kraft mehr hatte, um in die Pedale zu treten», sagte Pinot, dem die starken Rückenschmerzen, die von einem Sturz in der 1. Etappe herrühren, zum Verhängnis wurden.
Licht und Schatten
Pinots neuerliches Scheitern bei der «Grande Boucle» reiht sich in eine lange Liste von Niederlagen ein. Seit seinem Tour-Debüt im Jahr 2012, als er direkt in die Top 10 fuhr, ist Pinot der Hoffnungsträger der Grande Nation, die seit 35 Jahren auf einen französischen Gesamtsieger wartet. Doch nur 2014, als er die Frankreich-Rundfahrt im 3. Rang beendete, konnte er den hohen Erwartungen gerecht werden. Bei bislang sieben Tour-Teilnahmen erreichte Pinot das Ziel in Paris nur dreimal, zum letzten Mal im Jahr 2015 als Gesamt-16.
Trotz der andauernden Rückschlägen verlor Pinots Teamchef Marc Madiot das Vertrauen in seinen Schützling nicht. Mit einem flammenden Appell an die französische Radsport-Gemeinde stärkte er seinem Star im letzten Jahr sogar öffentlich den Rücken. «Unterstütze diesen Fahrer, weil er anders ist. Er wird dich zum Weinen bringen, manchmal wirst du traurig sein, aber er wird dich auch in den Himmel heben. Seine Siege werden anders schmecken als die der anderen.»
Auch in diesem Jahr richtete man bei Groupama-FDJ die gesamte Teamstrategie wieder voll auf Pinot aus und stellte ihm sieben Helfer zur Seite. Nach dem Absturz ihres Captains in der Gesamtwertung erhalten nun auch sie mehr Freiheiten. Bereits am Sonntag zeigten sich einige Groupama-Fahrer sehr offensiv, so auch Sébastien Reichenbach, der Schweizer Meister.
In den nächsten zwei Wochen liegt der Fokus des Teams auf einem Etappensieg. Auch Pinot hofft, dass sich sein Gesundheitszustand nach dem ersten Ruhetag soweit verbessert, dass er in den Alpen wieder angreifen kann. So wie 2015, als er mit seinem Triumph auf der legendären Alpe d'Huez für Begeisterungsstürme bei den Franzosen gesorgt hat.
Bardet und Martin sind neu Frankreichs Hoffnungsträger
Mit Julian Alaphilippe, der in diesem Jahr drei und im letzten ganze 14 Tage im gelben Leadertrikots fuhr, musste sich in den Pyrenäen auch der zweite grosse Hoffnungsträger der Franzosen aus dem Kreis der Favoriten verabschieden. Nun ruhen die Hoffnungen der Einheimischen auf Romain Bardet und Guillaume Martin. Das Duo konnte am letzten Wochenende etwas überraschend im Konzert der Grossen mitspielen. Als Gesamtdritter und -vierter liegen Martin und Bardet nur wenige Sekunden hinter Leader Primoz Roglic und Vorjahressieger Egan Bernal zurück. Das überrascht.
Insbesondere mit Bardet, der die Frankreich-Rundfahrt 2016 als Zweiter und 2017 als Dritter schon zweimal auf dem Podest beendet hat, rechnete in diesem Jahr kaum jemand. Der letztjährige Bergkönig wollte ursprünglich gar nicht zur diesjährigen Tour starten, änderte nach der coronabedingten Verschiebung aber seine Pläne. Nachdem er im letzten Jahr nicht in den Kampf um das Maillot jaune eingreifen konnte, wollte er heuer seinen Fokus auf einen Etappenerfolg legen. Nach dem unverhofft starken Beginn dürfte das Gesamtklassement für den 29-Jährigen AG2R-Fahrer wieder an Bedeutung gewonnen haben.
Anders als Roglic oder Bernal verfügt Bardet jedoch nicht über ein ähnlich starkes Team, das ihn in den Bergen unterstützen kann. Dies gilt auch für Martin. Trotz seiner Unerfahrenheit trauen Experten dem 27-jährigen Bergspezialisten, der erst vor vier Jahren zu den Profis gewechselt war und seit dieser Saison erstmals bei einem Team der World Tour unter Vertrag steht, einiges zu. Dass er gut in Form ist, hat Martin Mitte August mit seinem 3. Gesamtrang in der Dauphiné-Rundfahrt bewiesen. Der Weg zum nächsten Bernard Hinault, der 1985 als letzter Franzose die Tour gewann, ist aber noch ein weiter.