Der 26-jährige Amerikaner Noah Lyles ist zum ersten Mal Weltmeister über 100 m. Er hat einen speziellen Weg hinter sich und kündigt eine Dynastie an.
Lyles hatte während seiner Zeit in der High School einen Traum. In diesem läuft er auf einer blauen Bahn in einem olympischen Halbfinal. Er überquert die Ziellinie und sieht seine Zeit: 9,41 Sekunden. So schnell ist noch keiner gelaufen, der Weltrekord von Usain Bolt aus dem Jahr 2009 beträgt 9,58 Sekunden.
Zwar blieb Lyles im WM-Final mit der Jahresweltbestmarke von 9,83 Sekunden einiges über der geträumten Zeit, das war für ihn jedoch nebensächlich, umso mehr, als die 100 m nicht seine Paradedisziplin sind, sondern die 200 m. Über die halbe Bahnrunde wurde er 2019 und 2022 Weltmeister, während er in der Königsdisziplin zum ersten Mal überhaupt an einem Grossanlass den Sprung aufs Podest schaffte.
Viele Probleme als Kind
Lyles ist ein Kämpfer par excellence, das hat er früh gelernt. Als Kind litt er unter chronischem Husten, was sich als schweres Asthma herausstellte. Das kostete ihn viel Substanz, oft konnte er nicht einmal richtig essen. Er musste gar einmal in der Woche ins Spital, wo er an ein Beatmungsgerät angeschlossen wurde. Seine Mutter unterrichtete ihn zu Hause, da er sonst zu viel Stoff verpasst hätte. Sport war damals kein Thema.
Zudem wurde bei ihm Legasthenie diagnostiziert und hatte er mit ADS zu kämpfen – er war energiegeladen und hatte eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Dazu eine passende Aussage seiner Mutter: «Wenn ich Noah sagen würde, er solle sein Zimmer aufräumen, würde er die Treppe hinauf rennen und vielleicht ein paar Drehungen machen, um dorthin zu gelangen, dann käme er wieder herunter und würde fragen: 'Was soll ich tun?'»
Auch Depressionen gehören zum Leben von Lyles. Richtig schlimm wurde es 2020, als er mit dem Coronavirus, der Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio und vor allem mit der Gewalt in seiner Heimat umgehen musste, beispielsweise mit der Tötung des Afroamerikaners Georg Floyd durch einen weissen Polizisten. «Man sah immer mehr von der schmutzigen Seite Amerikas. Es war schwieriger damit umzugehen als mit allem anderen», so Lyles. Er nahm Antidepressiva, was für ihn eine der besten Entscheide seines Lebens war.
Lyles ist es wichtig, darüber zu sprechen, gerade auch wegen seines Status. «Viele Leute sehen Sportler nicht als Menschen an. Sie sehen uns entweder nur als Berühmtheit oder als Übermensch oder Superheld», sagte er einst. «Doch obwohl wir Dinge tun, die viele Menschen nicht können, haben wir immer noch das gleiche Leben wie viele normale Menschen.»
Immenser Glaube
Die Geschichte von Lyles zeigt, was alles möglich ist. Sein Glaube in die eigenen Stärken ist immens. Vor der WM in Budapest nach den Zielen gefragt, antwortete er: «Ich werde Gold über 100 und 200 m gewinnen und dann können wir den Weltrekord über 4x100 m brechen.» Dabei war Lyles als Kind noch mit wenig Selbstvertrauen gesegnet: «Ich wurde gemobbt, fand mich nicht attraktiv.» Mit der Leichtathletik, dem Wissen, etwas wirklich gut zu können, wurde er dann aber immer selbstbewusster. Er stellt aber klar: «Viele Leute denken, dass Selbstvertrauen aus dem Nichts kommt, aber in Wirklichkeit entsteht es durch mehrfache Siege und Bestätigungen.»
Nun ist er erstmals Weltmeister über 100 m. Es sei eine lange Reise bis dorthin gewesen, so Lyles. Am Freitag will er mit dem Triumph über 200 m das Double perfekt machen. Ein solches gelang zuletzt 2015 Usain Bolt, der dieses Kunststück dreimal an Weltmeisterschaften schaffte. Der Schatten von Bolt ist nach wie vor gross, Lyles ist jedoch auf bestem Weg, in dessen Fussstapfen zu treten. Das Charisma dazu bringt er auf jeden Fall mit und auch den Glauben, sprach er doch an der Medienkonferenz vom Start einer Dynastie. Und wer weiss, vielleicht wird ja bald auch der Traum aus der High-School-Zeit Wirklichkeit.
sfy, sda