Interview Neuanfang beim Turnverband: Frau Wertli, wussten Sie genau, auf was Sie sich einlassen?

fin, sda

30.1.2021 - 05:01

Béatrice Wertli (rechts, hier mit Bundesrätin Viola Amherd) nimmt ab dem 1. März ihre Aufgabe als STV-Direktorin voller Tatendrang in Angriff.
Béatrice Wertli (rechts, hier mit Bundesrätin Viola Amherd) nimmt ab dem 1. März ihre Aufgabe als STV-Direktorin voller Tatendrang in Angriff.
Bild: Keystone

Die 44-jährige Aargauerin Béatrice Wertli ist die neue Direktorin des Schweizerischen Turnverbands. Im Interview äussert sie sich zur Situation im STV.

Die Kommunikationsexpertin, ehemalige Generalsekretärin der CVP und frühere Triathletin Wertli nimmt Stellung zum am Freitag veröffentlichten Untersuchungsbericht der Zürcher Anwaltskanzlei Pachmann Rechtsanwälte und zu ihrer Aufgabe im STV, die sie offiziell am 1. März in Angriff nehmen wird.

Béatrice Wertli, was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse aus dem am Freitag veröffentlichten Untersuchungsbericht?

Der Bericht löste bei mir eine grosse Betroffenheit aus und zeigt die Dringlichkeit auf, dass im Bereich Rhythmische Gymnastik etwas unternommen werden muss. Es braucht Anpassungen auf allen Ebenen: im konzeptionellen und infrastrukturellen Bereich, beim Training und bei den Zielsetzungen. Aber auch im Management, beim Controlling und in der Governance.



Unter anderem ist von mangelnden professionellen Strukturen und fehlender Infrastruktur die Rede. Wie sollen Verbesserungen geschafft werden in einer Abteilung des STV, in der bereits in der Vergangenheit wenig finanzielle Mittel zur Verfügung standen?

Auch wir können nicht die Türe aufmachen und es kommt Geld rein. Kurzfristige Verbesserungen können wir bei der Infrastruktur aber trotzdem machen, und im Bereich Training gibt es unterschiedliche Methoden, die den Gegebenheiten angepasst werden müssen. Wenn Ziele nur mit ungesundem Training erreicht werden können, muss man sowohl an der Konzeption als auch an den Zielsetzung arbeiten. Die Infrastruktur ist aber zentral für das Betreiben von Leistungssport und für die Entwicklung der Rhythmische Gymnastik, deswegen sind auch Hallenprojekte in Biel und in Zürich geplant.

Wäre es möglich, dass die Rhythmische Gymnastik mittelfristig den Status Spitzensport verliert, weil sie sich finanziell nicht lohnt.

Die Rhythmische Gymnastik war bislang ausschliesslich auf Leistung ausgerichtet, nicht aber auch auf das Umfeld und die Umwelt. Wir müssen nun die Ziele anpassen, darum sagen wir, die Olympischen Spiele 2024 sind kein Ziel. Damit nehmen wir Druck raus.

Der Spitzensport ist eine Gratwanderung. Wie wollen Sie den Spagat schaffen, international kompetitiv zu sein, ohne moralische Grenzen zu überschreiten?

Mit einer humanen Spitzensportförderung. Was vor 15 Jahren vielleicht 'State of the Art' war, ist heute überholt, weil man in den Bereichen Trainingswissenschaft und -konzeption neue Erkenntnisse hat. Neben optimiertem Training braucht es auch realistische Ziele. Das kann auch heissen, dass Olympische Spiele nicht morgen oder übermorgen, sondern erst überübermorgen ein Ziel sein werden. Trotzdem soll Leistungssport betrieben werden können, weil es Athletinnen gibt, die wollen. Mit der Einzelbeschickung von internationalen Wettkämpfen wollen wir das ermöglichen. Es muss in die Breite investiert werden, damit man in die Spitze wachsen kann.

Im Untersuchungsbericht wurden die von ehemaligen Athleten in den Medien erhobenen Vorwürfe gegen die als Folge dieser entlassenen Nationaltrainerin Iliana Dineva nicht erhärtet.

Dazu kann ich keine Stellung nehmen – auch aus Gründen der Persönlichkeitsrechte. Diese müssen gewährt werden, dazu sind wir als Verband verpflichtet. Deswegen äussern wir uns nicht zu einzelnen Personen.



Auch im Kunstturnen gab es Vorwürfe gegen den Frauen-Nationaltrainer Fabien Martin, die derzeit von der neu geschaffenen Ethik-Kommission untersucht werden. Sind Sie mit ihm oder den Athletinnen schon in Kontakt getreten?

Auch dies ist eine laufende Untersuchung. Da ich noch nicht im Amt bin, hatte ich weder mit den Trainern noch mit den Athleten persönlichen Kontakt, auch wenn ich diesen sehr begrüsse und mich darauf freue.

Es stehen mit der Corona-Krise, der Kunstturn-EM im eigenen Land und den Olympischen Spielen in Tokio viele weitere Herausforderungen an.

Das gehört zu einem Verband und zu meinem Job, dass immer wieder neue Herausforderungen auftauchen. Als Generalsekretärin der CVP habe ich dies auch erlebt, als man beispielsweise jeweils nicht wusste, was im kommenden Jahr für Abstimmungen anstehen werden. Ich hoffe, dass die EM in Basel ein Erfolg wird, auch wenn mit einem grossen finanziellen Verlust zu rechnen ist. Der Verband muss aber in der Spitze und in der Breite gleichermassen gepflegt werden. Es gibt in allen Bereichen viel zu tun. Wir als Verband müssen fähig sein, diese Herausforderungen zu meistern.



Eine der ersten Amtshandlungen ist die Ernennung des Chef Spitzensport. Was für eine Person suchen Sie?

Es ist ein laufendes Bewerbungsverfahren, dem wir eine hohe Priorität beimessen, weshalb wir mit den Gesprächen bereits im Februar beginnen. Die Person muss sicherlich Stärken im Bereich Management, Konzeption und Führung haben, zudem muss sie gut in die Geschäftsstelle und in den Sport eingebunden werden.

Obwohl Sie die Stelle als STV-Direktorin noch nicht angetreten haben, sind Sie schon mitten drin im Geschehen mit all den Problemen und Herausforderungen. Wussten Sie genau, auf was Sie sich einlassen?

Krisen zu bewältigen, habe ich schon öfters gemacht. Hier kann ich meine Stärken ein- und den Verband weiterbringen. Wir zeigen der Öffentlichkeit, dass wir transparent die Vergangenheit aufarbeiten. Die Rückmeldungen, die wir erhalten, sind positiv. Klar, nun müssen wir zuerst alles zu Boden bringen. Ich persönlich kann unbelastet an die Aufgabe herangehen, was ein Vorteil ist. Diese Krise ist auch unsere Chance. Wir können zum Vorbild in der Umsetzung von ethischen Richtlinien werden. Wenn wir das schaffen, haben wir viel erreicht – auch für den gesamten Schweizer Sport.

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