Tour de France-Legende Jens Voigt«Die Kinder fragten meine Frau: Stirbt Papa jetzt?»
Bruno Bötschi
5.7.2025
Nur ein Mensch ist die Tour de France öfter gefahren als Deutsche Jens Voigt. Erst mit 42 Jahren machte der Berliner nach seiner 17. Rundfahrt 2014 Schluss.
Bild:imago/Belga
Jens Voigt spricht über die Tour de France. Von 5. bis 27. Juli rollt sie wieder durch Frankreich. Warum ist Voigt ein Kollege von Bugs Bunny? Und was lernte er als «Dune»-Fan aus den Romanen für seinen Sport?
Teleschau
05.07.2025, 09:15
05.07.2025, 09:17
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Nur ein Mensch fuhr die Tour de France öfter als Jens Voigt. Erst mit 42 Jahren machte der Berliner nach seiner 17. Rundfahrt 2014 Schluss. Nur der Franzose Sylvain Chavanel kann eine Teilnahme mehr vorweisen.
Am Samstag, 5. Juli, beginnt die neue dreiwöchige Ausgabe des berühmtesten Radrennens der Welt. Jens Voigt begleitet die Tour für Eurosport.
Im Interview schätzt der 53-Jährige die Chancen der Topfavoriten ein. Voigt wird aber auch persönlich: Er erzählt von seinem schweren Unfall 2009 und der Angst, die danach bei ihm mitfuhr.
Eine Ausgabe mit Chancen auf Spannung. Das Podium des letzten Jahres, die drei Superstars der Tour, sind dabei, gesund und in guter Form: Tadej Pogačar, Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel. Ich denke, dass die drei auch in diesem Jahr das Podium unter sich ausmachen.
Wie schätzen Sie die Strecke 2025 ein?
Sie ist sehr historisch und wohl auch deshalb seit langer Zeit mal wieder ausschliesslich in Frankreich. Wir feiern den 50. Geburtstag der Zielankunft auf den Champs-Élysées, des gepunkteten Bergtrikots und auch des weissen Trikots des besten Jungprofis. Besonders interessant im Sinne von originell sind zwei Etappen. Zum einen ein kurzes, sehr knackiges Bergzeitfahren in den Pyrenäen am 13. Tag der Tour.
Da geht es nur knapp elf Kilometer bergauf – aber ziemlich steil. Eigentlich müsste man da komplett hoch sprinten, wenn man was reissen will. Dort wird sich auf jeden Fall zeigen, wer richtig stark ist. Es ist übrigens auch ein spektakulärer Tag für Zuschauer vor Ort, weil sie alle Favoriten einzeln und im – vergleichsweise – langsamen Tempo aus der Nähe sehen können.
Und die andere originelle Etappe?
Das ist die letzte Etappe in Paris, wo es ja diesmal dreimal über kleines Kopfsteinpflaster und den Montmartre-Hügel vorbei an der berühmten Kirche Sacré-Cœur geht. Man kennt das Szenario von Olympia, aber bei der Tour ist es neu. Ich glaube, habe aber keinen Beweis dafür, dass der französische Staatspräsident Macron dem Tourveranstalter die letzte Etappe so ein bisschen verschrieben hat.
Weil er grosser Fan des Olympischen Rennens war, sagte er. Kurz nachdem er das als seinen magischen Olympia-Moment beschrieben hat, meinte er, dass wir das bei der Tour wiedersehen werden. Meiner Meinung nach hat er die Streckenplaner damit überrascht. Aber was will man machen, wenn sich das Staatsoberhaupt etwas wünscht (lacht).
Bedeutet es, dass die Schlussetappe spannender ist als bisher?
Durchaus. Wenn der Gesamtführende bis dahin zwei oder drei Minuten Vorsprung vor dem Zweiten hat, wird nichts mehr passieren. Ist der Vorsprung aber geringer als eine Minute, vielleicht nur ein paar Sekunden, wird es dort zu Attacken kommen, denke ich. Das Rennen wird durch die Variante Montmartre unruhiger.
Wir kennen die normalen Bilder vom letzten Tourtag, wo man gemütlich nebeneinander herfährt, sich auf die Schultern klopft und schon mal ein bisschen feiert. Nur für die Sprinter geht es da am Ende noch einmal um viel. Dieses Szenario kann man nun vergessen.
Das Fahrerfeld fährt zwei, drei Kilometer vor dem Berg durch den relativ engen Innenhof des Louvre. Normalerweise herrscht dort Schritttempo. Diesmal wird es stressig, weil bis dahin jeder eine gute Positionierung für den Anstieg haben will. Es wird ein anderes Rennen am letzten Tag.
Sie fahren die erste Hälfte der Tour de France wieder auf einem Motorrad mit. Danach wechseln Sie als Experte ins TV-Studio. Wie muss man sich das Kommentieren auf dem Motorrad vorstellen?
Man erlebt das Rennen aus einer besonderen Perspektive. Die amerikanischen Kollegen von NBC haben einen Kollegen dabei, der sogar die gesamten drei Wochen auf dem Motorrad verbringt. Mein Sender Eurosport überträgt in 70 bis 80 Länder. Eurosport gehört zu Warner Bros., wodurch ich ein Kollege von Bugs Bunny geworden bin. Das finde ich ziemlich gut (lacht). Ich spreche Englisch auf dem Motorrad und versuche, meine Eindrücke in viele Länder der Welt hinauszutragen. Das ist sozusagen meine Aufgabe.
Sieht man denn mehr auf dem Motorrad?
Na klar, man kann selbst entscheiden, wo man hinfährt im Feld, wo es gerade spannend ist. Ansonsten ist man auf das Bild-Angebot der Tour angewiesen. Als Ex-Profi sehe ich aus der Nähe Details, die anderen nicht auffallen: was ein Team gerade planen könnte, wer aus welchem Grund gerade gut oder weniger gut aussieht. Solche Dinge.
«Ich bin ein grosser Fan der ‹Dune›-Romane von Frank Herbert. Eine der Aussagen darin lautet: Die Angst tötet das Bewusstsein»: Jens Voigt.
Bild:Eurosport/Maurice Weiss
Haben Sie manchmal Angst auf dem Motorrad? Wie gut kennen Sie Ihren Fahrer?
Ich habe 2020 mit der Arbeit auf dem Motorrad begonnen. Damals hatte ich einen Ex-Fahrer aus der französischen Präsidentengarde. Wahrscheinlich hätte der sogar noch während der Fahrt eine Pistole bedienen können. Nicht, dass ich das bräuchte – aber der Typ war grossartig und extrem fit.
Die müssen mit 40 oder 45 in Rente gehen beim Präsidenten, davon haben wir profitiert. Nun habe ich einen anderen Fahrer, dem ich auch voll vertraue. Er ist Korse und wir stellen regelmässig fest, dass wir unser Leben ungeheuer gerne haben. Entsprechend verhalten wir uns auf der Strasse.
Aber man kommt schon in brenzlige Situationen?
Ich persönlich bis jetzt noch nicht, aber ich sehe in jedem Rennen mindestens einmal Kollegen, bei denen es eng wurde. Vorletztes Jahr ist das Motorrad französischer Kollegen in einer Kurve weggerutscht. Der Fahrer war relativ schnell wieder fit. Der Kameramann jedoch, der ja meist noch auf dem Motorrad steht, musste zwei Monate in Reha mit seinem Rücken.
Er ist nicht ungefährlich, dieser Job. Wenn sich ein Fahrer bei regennasser Strasse mit Tempo 100 in die Kurve legt, muss man hintendrauf eben mit und an die Gesetze der Physik glauben, auch wenn es sich falsch anfühlt. Andererseits gilt es, am Feld dranbleiben oder eben zuzusehen, dass man die Fahrer nicht behindert, sollten sie hinter einem kommen.
Sie waren früher selbst ein kämpferischer, ja draufgängerischer Fahrer. Hatten Sie auch mal Angst auf dem Rad?
Meine grösste Angst war der Druck. Es war die Angst zu versagen, die Mannschaft hängenzulassen. Da hiess es: «Jens, wir bauen auf dich. Für die weitere Taktik brauchen wir dich in der Spitzengruppe.» Dann wusste ich: Jetzt gilt's, ich darf nicht versagen.
Von mir waren Favoriten auf den Gesamtsieg oder potenzielle Trikotgewinner abhängig. Letztendlich ging es da um Millionen von Euro. Geld, von dem wiederum gute Freunde und viele Mitarbeiter im Team bezahlt wurden. Ich glaube, meine grösste Angst war stets, den Anforderungen nicht gerecht zu werden.
Hatten Sie auf der Strecke auch mal nackte Angst ums Leben?
Ich hatte 2009 den schweren Sturz in der Abfahrt vom Kleinen Sankt Bernhard. Damals kam der Rettungshubschrauber, und ein Kommentator im Fernsehen sagte, glaube ich, sogar: Die Chancen für Jens Voigt, den nächsten Morgen zu erleben, lägen bei 50 Prozent. Die Kinder erlebten das am Fernseher und fragten meine Frau: «Stirbt Papa jetzt?».
Natürlich bin ich nicht gestorben. Doch danach war meine Komfortzone bei 60 oder 70 zu Ende. Wenn ich nach diesem Erlebnis Abfahrten von 80 bis 100 Kilometern pro Stunde zu bewältigen hatte, fühlte ich mich sehr, sehr unwohl. Man behält etwas zurück von solchen Ereignissen.
Muss man angstfrei sein, um im Radsport ein grosser Champion zu werden?
Ich bin ein grosser Fan der «Dune»-Romane von Frank Herbert. Eine der Aussagen darin lautet: Die Angst tötet das Bewusstsein. Es stimmt tatsächlich und gilt auch für den Profi-Radsport. Wenn du Angst hast, sitzt du steif auf deinem Arbeitsgerät. Du bremst im falschen Moment, nimmst die falsche Linie oder guckst auf den falschen Punkt der Kurve. Du machst Fehler, weil du Angst hast.
Angst im Sport lässt dich die Kontrolle verlieren. Nicht völlig, aber ausreichend, dass es für dich noch gefährlicher wird. Ziel eines Spitzensportlers muss es sein, Angst in Respekt zu verwandeln. Es ist nichts Verwerfliches, Angst zu haben. Doch man muss sie in Respekt transformieren können. Erst dann kommt man ans Leistungslimit. Ich denke, grosse Champions haben genau das drauf.
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