Am 19. Juli 1980 werden die Olympischen Spiele in Moskau eröffnet. Sie stehen im Zeichen des von den USA initiierten Boykotts. Aus der Schweiz fehlten Reiter, Fechter, Schützen und Turner.
Nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele fiel der Sport politischen Ränkespielen zum Opfer. Die Wettkämpfe 1936 in Berlin dienten Nazi-Deutschland zur Propaganda, 1956 verzichtete neben den Niederlanden und Spanien auch die Schweiz aus Protest gegen die Niederschlagung des ungarischen Aufstands durch die Sowjetunion auf die Teilnahme an den Spielen in Melbourne. Und 1976 in Montreal fehlten diverse afrikanische Staaten oder sie reisten vorzeitig ab, weil Neuseelands Rugby-Team den gegen Südafrika aufgrund dessen Apartheidspolitik verhängten Sportbann gebrochen hatte.
Nie zuvor warf ein Sportanlass aber so hohe Wellen wie die Spiele in Moskau. Die Boykott-Diskussionen im Vorfeld lösten gesellschaftliche Grundsatzdebatten aus. Das Pro und Contra wurde zu einer Frage der politischen Gesinnung und der Ideologie jedes Einzelnen im Kalten Krieg. «Es gehört sich nicht, die sowjetische Invasion in Afghanistan auch noch olympisch abzusegnen», schrieb die «NZZ» am 20. April 1980.
Frankreich gegen einen Boykott
Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan vor Weihnachten 1979 war der Auslöser für die weltweite Boykottbewegung. Bereits Mitte Januar drohte US-Präsident Jimmy Carter der Sowjetunion, die Sommerspiele zu boykottieren, sollte die Rote Armee bis Mitte Februar nicht mit dem Rückzug aus Afghanistan begonnen haben. Am 12. April entschloss das Amerikanische Olympische Komitee mit einer Zweidrittelmehrheit, die Spiele zu boykottieren.
Deutschland unterstützte wie Kanada, Japan, Kenia oder auch Liechtenstein die Haltung der USA, auch wenn der SPD-Vorsitzende Willy Brandt gegenüber dem «Spiegel» zu bedenken gab, «dass niemand glauben soll, dass man durch einen Boykott einen einzigen russischen Soldaten aus Afghanistan herausholt». Frankreich sprach sich gegen einen Boykott aus, das NOK Grossbritanniens ebenfalls – entgegen der Meinung des britischen Unterhauses. Und auch China, das kurz zuvor wieder in die olympische Familie aufgenommen worden war, verzichtete auf eine Teilnahme.
«Toleranz» oder «politische Dummheit»?
In der Schweiz waren die Meinungen in der Bevölkerung und innerhalb der Sportverbände gespalten. Konservative Kräfte sprachen sich für, progressive gegen einen Boykott aus. Nicht nur politische Gründe wurden für einen allfälligen Verzicht ins Feld geführt. «Uns allen war bekannt, wie die Erfolge der Sportler aus dem Ostblock politisch umgemünzt wurden und wie käuflich das IOC in Zusammenhang mit den Ereignissen um die Vergabe der Olympische Spiele nach Moskau war», sagte Ferdinand Imesch, der damalige Direktor des Schweizerischen Landesverbandes für Sport 2001 im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung der ETH Zürich. Es habe im IOC keine Demokratie, sondern eine dogmatische Oligarchie geherrscht. «Zudem hatten die Nationalen Olympischen Komitees im IOC nichts zu sagen!»
Imeschs Gegenspieler Raymond Gafner, der Präsident des Schweizerischen Olympischen Komitees, appellierte an der Generalversammlung am 12. Mai in Bern: «Im grossen Pokerspiel der Weltpolitik sollte der Sport die Karte der Hoffnung ausspielen.» In der geheimen Abstimmung sprachen sich die Verbände mit 24:22 Stimmen gegen einen Boykott aus. Ein «Ja ohne Freude», schrieb der «Bund», der «Tages-Anzeiger» sprach von einem «Zeichen der Toleranz», die «Ostschweiz» nannte den Entscheid eine «politische Dummheit». Dieser sollte aber im Gegensatz zu jenem 1956 keine nachhaltigen Folgen haben. «Die Selbstzerfleischung des Schweizer Sports auf dem Buckel von Wirtschaft, Kultur und Politik wird diesmal nicht stattfinden», kommentierte der «Sport».
Medaillenkandidaten blieben zuhause
Den Verbänden und Athleten war es selbst überlassen, ob sie in Moskau antreten wollten. Schon früh hatten die Reiter der Top-Nationen ihren Verzicht erklärt, auch die Schweizer – trotz aussichtsreicher Kandidaten. Christine Stückelberger, die Dressur-Olympiasiegerin von 1976, galt wiederum als Top-Favoritin. Auch der Springreiter Walter Gabathuler rechnete sich Chancen auf eine Medaille aus.
Auch der Schiess-, Turn- und Fechtverband verzichteten auf eine Teilnahme – gegen den Willen vieler Athleten. Christian Kauter, Daniel Giger und François Suchanecki hatten 1972 und 1976 mit dem Degen-Team Silber bzw. Bronze gewonnen. Auch für Moritz Minder, Weltrekordhalter und Weltmeister mit der Freipistole, und Daniel Nipkow platzte der Traum von olympischem Edelmetall in Moskau.
Letztlich trat die Schweiz Delegation unter neutraler Flagge mit 82 Athleten an, unter ihnen die späteren Olympiasieger Jürg Röthlisberger und Robert Dill-Bundi. Auf den Einmarsch bei der Eröffnungsfeier verzichteten sie. Insgesamt nahmen 4485 Sportler und 1220 Sportlerinnen aus 80 Nationen an den erstmals in einem sozialistischen Land durchgeführten Spielen teil, 16 davon aus Afghanistan.
«Die Entpolitisierung des Sports und der olympischen Bewegung ist etwas, das angepackt werden muss», sagte der abtretende IOC-Präsident Lord Michael Killanin zum Auftakt der 83. IOC-Session im Bolschoi-Theater in Moskau. Wenige Tage später übte der Ire scharfe Kritik an den USA: «Jeder Boykott wirkt sich kontraproduktiv aus. Am meisten enttäuscht war ich bei meinem Besuch in Washington aber darüber, wie schlecht informiert sich Jimmy Carter über die Organisation des Sports in der Welt zeigte. Ich hatte das Gefühl, ausser American Football und Baseball würde er nichts kennen.»