Am 26. August 1972, vor 48 Jahren, ist die Welt noch in Ordnung, besonders in München. Fröhlich werden die Olympischen Sommerspiele eröffnet – zehn Tage vor dem grässlichen Terroranschlag.
«München wird die grössten, die fortschrittlichsten und leistungsmässig sicherlich auch die besten Spiele der Moderne erleben», schrieb der grosse Schweizer Sportchronist Walter Lutz in der Fachzeitung «Sport», als die Eröffnung im Olympiastadion bevorstand. Die XX. Olympischen Spiele sollten in der Tat die grössten werden, mit rund 10'000 Athletinnen und Athleten aus 123 Ländern und mit 196 Entscheidungen in 21 Sportarten. Und – in einer Zeit, in der der technische Fortschritt galoppierte – mit einer bisher ungekannten TV-Abdeckung für schätzungsweise eine Milliarde Menschen.
Der wortgewaltige Lutz schrieb von einer «neuen, phänomenalen Universalität» und der «faszinierenden, unversieglichen Ausstrahlungskraft der olympischen Idee und der olympischen Bewegung». Er konnte zu dem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er wenige Tage später am Ort des friedlichen Sportfests vom Sportjournalisten zum Kriegsberichterstatter werden würde.
Hypermodernes Olympiastadion
Den prächtigen Sommerspielen, wie sie Lutz vorausgesagt und sich gewünscht hatte, wäre nichts im Weg gestanden. Der Auftakt mit der Eröffnung am 26. August im damals hypermodernen Olympiastadion – heute wird es hauptsächlich noch für Public-Viewing-Veranstaltungen und Open-Air-Konzerte genutzt – hätte nicht schöner und harmonischer sein können.
Die Münchner Organisatoren lösten sich vom Pathos früherer Eröffnungsfeiern wie jenen von Tokio 1964 oder der Winterspiele im Januar 1972 in Sapporo. In der Ehrenloge, in der auch Bundeskanzler Willy Brandt und Fürstin Gracia Patricia von Monaco alias Grace Kelly sassen, eröffneten der scheidende IOC-Präsident Avery Brundage und der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann die Spiele ohne lange Reden.
Der damals schon leicht ergraute Beau, Schauspieler und Entertainer Joachim «Blacky» Fuchsberger moderierte die Feier unaufgeregt, und aus seinen Worten konnte man ein Augenzwinkern heraushören. Der Einzug der Athleten ins Stadion wollte nicht enden, war aber auch nicht langweilig, zumal sich die Mannschaften keinen Tenüvorschriften unterwerfen mussten. Die Einmarschmusik bestand längst nicht nur aus Marschmusik. Die Athleten der Bermudas präsentierten sich in den gleichnamigen Shorts, die Polinnen in tabubrechenden Miniröcken, die Mexikaner unter überdimensionierten Sombreros. Die Athleten aus Tschad, Mali, Kamerun, Niger und Nigeria kamen bereits damals in wallenden Gewändern daher.
Unsichtbare Schweizer
Die Schweizer Delegation folgte dem fahnentragenden Solothurner Speerwerfer Urs von Wartburg vom BTV Aarau. Aber war die Delegation tatsächlich im Stadion? Zu sehen war sie nämlich kaum, denn die dunkelbraunen Hosen und die bräunlichrötlichen Vestons mit dem Prince-de-Galles-Muster kontrastierten nicht mit dem Kunststoffhintergrund im Stadion, wie im «Sport» zu lesen war.
Von einer geschlechtlichen Parität im Schweizer Aufgebot konnte keine Rede sein. Das hing damit zusammen, dass damals, anders als heute, viele Wettkämpfe im olympischen Programm nur für die Männer ausgeschrieben waren. 122 Männer und 29 Frauen trugen das weisse Kreuz im roten Feld. An der Eröffnung (noch) nicht zugegen waren die Kunstturner von Jack Günthard und die Kunstturnerinnen von Ludek Martschini, die «Martschini-Girls» wie Käthi Fritschi und Patrizia Bazzi.
Wurden die Schweizer im Olympiastadion kaum gesehen, so sollten sie immerhin selber etwas von dem Spektakel sehen können. Aber offenbar sahen nicht alle etwas. Jedenfalls nicht der Ausdauerläufer Werner Dössegger, auch er vom BTV Aarau. Er war der Kleinste im Bunde und stand nicht weit vorne, wie es im «Sport» hiess.
«So, wie war's?» «Lang!»
An der Eröffnung waren die Fesseln für alle gelockert. Die Amerikaner zeigten eine einstündige Show, und im Verborgenen liessen sich auch die Schweizer Ruderer etwas einfallen. Zwei nicht qualifizierte kleine Ruderer aus Genf waren nach München gereist und bedauerten, nicht dabei zu sein. Melch Bürgin, der Rädelsführer der Ruderer, besorgte den beiden offizielle Anzüge aus der eisernen Reserve. Die Kluft war beiden viel zu gross, es musste umgeschlagen und umgenäht werden. Aber schliesslich waren die Genfer als blinde Passagiere mitten in der Delegation.
Nach der endlosen Eröffnung ohne Sitzgelegenheiten waren alle müde und hielten sich das Kreuz. Unter den Schweizern kursierte ein Kurzwitz. «So, wie war's?» «Lang!»
Zum Schluss flogen 5'000 Tauben gen Himmel, 5'000 Symbole des Friedens. Noch wusste niemand, dass fanatische palästinensische Terroristen mit dem Anschlag auf die israelische Delegation am 5. September alles ins Gegenteil drehen würden.