Marc Hirschi ist der Schweizer Überflieger der World-Tour-Saison. Der 22-jährige Berner Radprofi spricht über seinen Aufstieg, seine Grand-Tour-Ambitionen und darüber, wo er sich noch verbessern kann.
Marc Hirschi, vor einem Monat beendeten Sie Ihre so erfolgreich verlaufene Saison. Was haben Sie seither gemacht?
Die letzten drei Wochen war ich kaum auf dem Velo. Eigentlich habe ich nicht viel unternommen, trotzdem waren die Tage jeweils sehr schnell vorüber.
Schauten Sie am TV, was beim Giro und der Vuelta lief?
Gar nicht so viel. Doch die letzten Etappen des Giro, wo meine Teamkollegen so gut im Rennen lagen, verfolgte ich intensiver. Die Vuelta schaute ich nur gelegentlich.
Und sonst?
Es wäre auch die Zeit gewesen, um nach draussen zu gehen, die Kollegen zu treffen und in den Ausgang zu gehen. Doch in Zeiten von Corona ist alles ein bisschen speziell. Nun habe ich aber langsam wieder mit dem Training begonnen. Nächste Woche geht es dann richtig los.
Bleiben Sie in der Schweiz oder gehen Sie wie in den vergangenen Jahren mit ein paar gleichaltrigen Radfahrer-Kollegen in den wärmeren Süden?
Vor zwei Jahren waren wir zunächst für Ferien und gleich anschliessend fürs Training auf Mallorca, letztes Jahr dann in Malaga. Dort wollten wir auch heuer wieder hin, das geht nun aber nicht. Dafür plane ich, ab nächster Woche bis Weihnachten mit zwei Kollegen ein Haus auf Gran Canaria zu mieten. Dort kommt man gut hin, die Situation mit dem Coronavirus ist vergleichsweise gut und es herrscht meistens gutes Wetter. Einzig das Gelände ist für den Trainingsbeginn etwas zu bergig.
Wann steht das erste Trainingslager mit dem Team Sunweb an?
Vieles ist aufgrund der Corona-Pandemie noch ungewiss. Es sieht so aus, als fände dieses statt im Dezember in Spanien erst nach Neujahr statt. Die Lage ist momentan kompliziert, gerade auch für ein Team wie unseres, das Fahrer aus ganz vielen verschiedenen Nationen im Kader hat. Je nach Land gibt es andere Quarantäne-Vorschriften.
Ihre zweite Saison als Profi verlief extrem gut, mit brillanten Leistungen bei der Tour de France, die Sie mit dem Etappensieg in Sarran krönten. Danach folgten WM-Bronze, der Sieg bei der Flèche Wallonne und der 2. Platz bei Lüttich-Bastogne-Lüttich. Setzt Sie das für 2021 unter Druck?
Nicht wirklich. Grundsätzlich weiss ich nun, wie ich trainieren muss, nämlich so, wie ich das bis jetzt gemacht habe. Die Kilometerumfänge bleiben in etwa gleich. Nach der Auszeit bin ich für diesen nun folgenden Prozess auch wieder sehr motiviert.
Welches Rennprogramm schwebt Ihnen für nächstes Jahr vor?
Ich mache mir jetzt noch nicht gross Gedanken darüber, welche Rennen ich mit welchen Zielen fahren werde. Mein Fokus gehört ganz den kommenden Wochen, wie ich in dieser Phase am besten trainieren kann.
In welchen Bereichen wollen Sie sich noch gezielt verbessern?
Künftig wird der Fokus sicher mehr auf den Zeitfahren liegen. Für dieses Jahr war das nicht nötig, da ich wusste, dass ich wohl nur ein Zeitfahren bestreiten werde. Auch in den langen Anstiegen sind noch Fortschritte möglich.
Können Sie das näher ausführen?
Mit all den Trainings- und Rennkilometern, die ich weiterhin zurücklegen werde, gehe ich davon aus, dass meine Grundausdauer mit zunehmendem Alter automatisch besser wird. Das heisst, ich werde mich nach den Etappen schneller erholen und so die drei Wochen einer Rundfahrt besser durchstehen. Das hat man beispielsweise auch bei Julian Alaphilippe gesehen. Den Punch, die Sprintfähigkeiten, das hat man bereits als junger Fahrer. Das mit der Ausdauer kommt später dazu.
Heisst das, Sie hegen Ambitionen, dereinst in einer Grand Tour um den Gesamtsieg kämpfen zu wollen?
Ich war erstaunt, wie gut ich durch meine erste dreiwöchige Rundfahrt kam. Allerdings konnte ich es zwischendurch auch sehr locker angehen. Es ist mental wie physisch etwas ganz Anderes, wenn du jeden Tag ganz vorne mitfahren musst. Aber wohlverstanden: In den nächsten zwei Jahren werde ich sicher nicht in einer Grand Tour auf das Gesamtklassement fahren. Der Fokus gehört in der näheren Zukunft den Eintagesrennen und kleinere Rundfahrten wie vielleicht der Tour de Suisse. Schön ist, dass ich jung bin und mich jetzt noch nicht entscheiden muss. Ambitionen auf eine Grand Tour schliesse ich nicht komplett aus. Wer weiss schon, was in fünf Jahren sein wird? Aber darüber zerbreche ich mir jetzt nicht den Kopf.
«Im Vergleich zu früher ist die Ausbildung der Fahrer ganz anders.»
Das Coronavirus warf heuer sehr vieles über den Haufen. Für Sie im Speziellen brachte es aber auch Positives.
Dadurch erhielt ich mehr Zeit, meine Hüftprobleme in den Griff zu kriegen. Ich musste kein schlechtes Gewissen haben, dass ich etwas mehr im Kraftraum als auf dem Velo war.
Dazu kam, dass die stark komprimierte World-Tour-Saison jüngeren Fahrern wohl eher entgegenkam als älteren ...
Für Junge, für welche sowieso vieles Neuland war, war es einfacher. Ältere hingegen mussten ihre über viele Jahre erprobte, strukturierte Vorbereitung anpassen.
Auffällig war in dieser Saison, wie viele Siege auf das Konto von sehr jungen Fahrern gingen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Im Vergleich zu früher ist die Ausbildung der Fahrer ganz anders. Es gibt viele Nachwuchsteams mit sehr guten Programmen und auch viel mehr Sportausbildungen als zuvor. Die Jungen können viel früher professionell trainieren. Gerade auch in der Schweiz, wo das früher neben einer normalen Lehre nicht möglich war.
«Es kam alles so überraschend, aber dadurch war es auch umso schöner»
Sie sind seit fast zwei Jahren Profi. Anfang September gelang Ihnen anlässlich der 12. Etappe der Tour de France der erste Sieg. Was verspürten Sie auf dem letzten Kilometer in Sarran, als Sie solo Richtung Ziellinie fuhren?
Ich war schon zuvor nahe am Sieg gewesen. Doch im Sprint klappte es zweimal nicht, da kamen dann doch Zweifel auf, ob es beim dritten Mal vielleicht wieder nicht reichen würde. Richtung Sarran ging unsere Taktik aber perfekt auf, meine Teamkollegen fuhren hinten voll für mich. Solche Erlebnisse schweissen zusammen, das nächste Mal verzichte ich mal auf meine Chance, dann fahre ich für einen Teamkollegen. Es ist ein Geben und Nehmen.
Ihre Gefühle beim ersten Profisieg ...
Dieser Sieg war ein Traum, der in Erfüllung ging. Noch zwei, drei Wochen vorher hätte ich nicht ansatzweise daran gedacht, dass ich so fahren könnte. Deshalb war es auch für mich eine Riesenüberraschung, obwohl ich natürlich während der Tour schon gespürt habe, wie gut ich in Form bin. Aber eben: Nach den zwei Niederlagen im Sprint bestanden Zweifel, deshalb fühlte ich nach dem Sieg auch eine grosse Erleichterung.
Sie hatten an der Tour de France, Ihrer ersten grossen Rundfahrt überhaupt, von Beginn an überzeugt. Als in der Schlussphase der 2. Etappe Julian Alaphilippe angriff, gingen Sie mit und wurden in Nizza Zweiter hinter dem Franzosen. 'Boom, da bin ich – Marc Hirschi', so ging es wohl manchem, der nicht jedes Radrennen verfolgt.
Es war tatsächlich ein bisschen so, wie ich es mir erträumt hatte. Wenn ich jetzt überlege, was ich alles in so kurzer Zeit erreicht habe, dann wäre das auch für eine ganze Karriere bereits gut. Es kam alles so überraschend, aber dadurch war es auch umso schöner. In der nun zu Ende gegangenen Pause versuchte ich, alles zu verarbeiten. Nun bin ich wieder motiviert, die Bestätigung – und hoffentlich noch mehr – folgen zu lassen.