Zürich
Mit dem Gewinn ihrer ersten WM-Medaille belohnte sich Giulia Steingruber für die Mühen der letzten Monate. Der Auftritt der 23-jährigen Ostschweizerin in den Tagen von Montreal war beeindruckend.
So ganz zu glauben, was passiert war, vermochte Giulia Steingruber noch nicht, als sie am späten Samstagabend mit der Bronzemedaille um den Hals in den Katakomben des Olympiastadions in Montreal die ersten Gratulationen entgegennahm. "Hätte mir das jemand vor dem Final gesagt, dann hätte ich wohl schmunzeln müssen." Viermal war sie zuvor an Weltmeisterschaften in einem Sprungfinal gestanden, zweimal hatte sie sich für einen Bodenfinal qualifiziert, der Sprung auf das WM-Podest war ihr aber stets verwehrt geblieben. Nun, als es niemand erwartet hatte, schloss sie die letzte Lücke in ihrem Palmarès. "Die Medaille bedeutet mir sehr, sehr viel. Sie ist eine mega Belohnung."
Steingruber wusste um die gute Ausgangslage, hatte sie doch vor einem Jahr an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro in einem ähnlichen Feld bereits Bronze geholt. Aber sie wusste auch um ihre Geschichte: die Operation im letzten Januar, der mühselige körperliche Wiederaufbau, die immer wieder auftretenden Schmerzen im Fuss, die Tatsache, dass ihre körperliche Leistungsfähigkeit noch nicht wieder dieselbe wie 2016 ist. Hinzu kam das Verarbeiten des Verlusts ihrer Schwester, die im Februar verstorben war.
Doch allen Widerwärtigkeiten zum Trotz, auf der grossen Bühne, im grellen Licht der Scheinwerfer und dem Fokus der Öffentlichkeit lieferte Steingruber in der Olympiastadt von 1976, in der einst die Rumänin Nadia Comaneci Kunstturn-Geschichte geschrieben hatte, ihre womöglich beeindruckendste Vorstellung ab. Die Gossauerin zeigte sich nicht nur zum wiederholten Mal bereit, als es zählte. Sie übertraf die in sie gesetzten Erwartungen - und zwar deutlich. "Dass ich so zurückkommen konnte, obwohl ich noch nicht hundert Prozent fit bin, macht mich extrem stolz."
Bereits mit ihrem 7. Rang nach einem fehlerfreien Mehrkampf setzte sie ein Ausrufezeichen, auch wenn die Konkurrenz bei den Frauen wie so oft im ersten Jahr nach Olympischen Spielen nicht ganz so stark wie gewohnt ist. Steingruber packte die sich ihr bietende Chance aber resolut beim Schopf; eine der Fähigkeiten, die Champions von guten Athleten unterscheidet.
Den Mutigen gehört die Welt
Die erst zweite WM-Medaille einer Schweizerin ist auch eine Belohnung für das Trainerteam um Chef Fabien Martin. Der Franzose trat Anfang Jahr das schwere Erbe von Zoltan Jordanov an, dem Baumeister der erfolgreichsten Ära im Schweizer Frauen-Kunstturnen. Doch während der Ungar einen eher autoritären Führungsstil pflegte und den Fokus auf seine Aushängeschilder Ariella Kaeslin und Steingruber legte, setzt Martin mehr auf einen kommunikativen, integrativen Führungsstil. Die Athletinnen schwärmen vom Klima und dem abwechslungsreichen und individuell gestalteten Trainingsprogramm. "Die Trainer sind sehr feinfühlig. Sie sind Menschenkenner und tragen Sorge zu den Athleten", sagte Steingruber.
Während Jordanov jeweils das letzte Wort hatte und im Zweifelsfall Risiken vermied, nahm Steingruber in Montreal ihr Schicksal selbst in die Hand. Obwohl sie den Jurtschenko mit Doppelschraube nur ein Dutzend Mal im Training gezeigt hatte, entschied sie, diesen in Montreal zu zeigen. Fabien vertraute dem Gefühl und der Erfahrung der 23-Jährigen und intervenierte nicht. Weder vor der Qualifikation noch vor dem Final turnte Steingruber ihren zweiten Sprung ein, bei dem sie vor zwei Jahren in Glasgow im Final schwer gestürzt war. Dennoch brachte sie ihn auf dem Podium jeweils sicher in den Stand. Ihr Mut wurde belohnt - mit einer WM-Medaille, von der vor wenigen Wochen nicht einmal die kühnsten Optimisten zu träumen gewagt hatten.
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