Simone Biles eröffnete an den Weltmeisterschaften in Stuttgart ihre Titeljagd mit dem Sieg der USA im Team-Final. Die Rekord-Weltmeisterin hat das Frauen-Kunstturnen in eine neue Dimension geführt.
Eine Mischung aus Faszination und Ungläubigkeit herrscht in diesen Tagen in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle, wenn Simone Biles im Einsatz steht. Wie bereits in der Qualifikation zeigte die 22-Jährige auch im Team-Final am Dienstag das derzeit schwierigste Element im Kunstturnen, als wäre es das Einfachste auf der Welt: den Doppelsalto mit einer Dreifachschraube, den «Triple Double».
Die Experten verneigen sich vor der nur 1,42 m grossen Athletin, die in Columbus im Bundesstaat Ohio geboren ist. «Sie ist der absolute Oberknaller», sagt Fabian Hambüchen, Reck-Olympiasieger 2016 und Botschafter der WM in Stuttgart. Am 'Triple-Double' hätten viele Männer zu knabbern, «ich selbst hatte ihn nie geschafft».
Noch abgefahrener findet der Deutsche Biles' neues Element am Schwebebalken: «Ein Doppelsalto mit Doppelschraube von einem 10 cm breiten Gerät ist für mich unvorstellbar.» Im Gegensatz zur Qualifikation verzichtete Biles im Team-Final auf diesen Abgang.
Dass die vierfache Olympiasiegerin von 2016 die grösste Kunstturnerin aller Zeiten ist, steht ausser Frage. «Was sie macht, ist unglaublich. Sie hat eine perfekte Technik», sagt Giulia Steingruber, die in Rio de Janeiro mit Biles im Sprung auf dem Podest stand. «Eine solche Ausnahmeathletin wird es so schnell nicht wieder geben.» Für die deutsche Cheftrainerin Ulla Koch gibt es vor allem einen Grund für die Überlegenheit von Biles: «Sie hat einen begnadeten Körper, eine super schnelle Muskulatur. Das kann man nicht trainieren. Das ist von Gott gegeben.»
Wunden der Vergangenheit
Dass es Biles zum Superstar geschafft hat, ist alles andere als selbstverständlich. Schwierige Umstände sind ein steter Begleiter in ihrem Leben. Der Vater verliess die Familie früh, die Mutter war drogen- und alkoholabhängig, weswegen Biles von den Grosseltern adoptiert wurde und bei ihnen aufwuchs. Diese begleiten sie noch heute an jeden Wettkampf. Ihr älterer Bruder Tevin befindet sich seit einigen Wochen im Gefängnis. Er wird beschuldigt, in der Silvesternacht an einem Dreifach-Mord beteiligt gewesen zu sein.
Hinzu kommt der Fall Larry Nassar, der grösste Skandal in der Geschichte des amerikanischen Profisports. Der langjährige Chefarzt des US-Verbandes verging sich jahrzehntelang an insgesamt mehr als 250, meist minderjährigen Turnerinnen. In mehreren Prozessen wurde er zu bis zu 175 Jahren Gefängnis verurteilt. Auch Biles gehörte zu den Opfern, auch sie ist ein «Survivor».
Am Rande der amerikanischen Meisterschaften in Kansas City zeigte Biles im August ihren Frust öffentlich, als sie mit Tränen in den Augen den eigenen Verband anklagte. Sie hätten alles getan, was von ihnen verlangt worden sei, selbst wenn sie es nicht gewollt hätten, sagte die vierfache Olympiasiegerin. «Ihr hattet nur eine Aufgabe, aber ihr habt es nicht geschafft, uns zu beschützen.» Jedes Mal, wenn sie zum Arzt gehe, fürchte sie sich. «Wir versuchen, es zu verarbeiten. Aber es wird dauern», sagte die 22-Jährige.
Weitere Rekorde möglich
Die Wunden ihrer Vergangenheit sind Biles auf dem Podium und in den Katakomben aber selten anzumerken. «Sie ist immer sehr aufgestellt und bodenständig», sagt Steingruber. An der im Vorfeld der WM einberufenen Pressekonferenz, in der Biles nur über sportliche Dinge sprach, vereinnahmte sie die Medienschar mit ihrem Strahlen.
Mit ihren Höchstschwierigkeiten hat sie das Frauen-Kunstturnen auf eine neue Ebene gehievt, dennoch verbleibt auch für die erfolgreichste Turnerin der WM-Geschichte Raum für weitere Superlativen. Niemand zweifelt, dass sie nach Stuttgart den 23-fachen Medaillengewinner Witali Scherbo überholen wird. Zudem lockt der Rekord der Russin Larissa Latynina, die 1958 in Moskau als Einzige fünf Titel an einer WM gewann.
«Ich kann mir vorstellen, dass sie mit fünf Goldmedaillen nach Hause gehen wird», sagte Hambüchen vor Beginn der WM. Nach den ersten Auftritten von Biles in Stuttgart wird ihm niemand widersprechen.