Jonas Vingegaard hat sich als Nummer 1 im Radsport etabliert und er tritt auch als Person selbstbewusster auf. Der nunmehr zweifache Sieger der Tour de France hat gelernt, mit dem Druck umzugehen.
Die schmalen Schultern von Jonas Vingegaard hielten der Last Stand. Grosse Siege zu erreichen ist das eine, sie zu wiederholen das andere. Der 26-jährig Däne hat geschafft, was ihm im Vorfeld der Tour und auch nach der zweiten Woche der grossen Schleife nur die Minderheit zutraute. Sein Gegenspieler Tadej Pogacar schien im Vorteil zu sein, ehe der Slowene noch siebeneinhalb Minuten kassierte. Vingegaard wirkte während der zahlreichen Angriffe von Pogacar souverän, liess auch mal eine Lücke aufgehen, um nicht in den roten Bereich zu fahren, strahlte Ruhe aus und setzte in den entscheidenden Alpenetappen noch einen drauf.
Kein Zweifel, Vingegaard ist selbstbewusster geworden. Die Steigerung des Selbstbewusstseins geht einher mit tollen Resultaten: Die Sportwelt nimmt ihn erst seit dem überraschenden 2. Platz bei seiner Tour-Premiere im Jahr 2021 wahr. «Ich war schon zuvor ein sehr guter Rennfahrer, aber ich habe es nicht geschafft, mit dem Druck umzugehen», sagte der Mann aus der Region Nordjylland am Samstag an der grossen Tour-Pressekonferenz zu seinem späten Durchbruch.
Vom zweitklassigen Amateur zur Nummer 1
Lange war Vingegaard nur ein zweitklassiger Amateur gewesen, der nebenbei in der Fischfabrik arbeitete. Erst 2018 – da war er schon 21 Jahre alt – entdeckte ihn das Team Jumbo-Visma, das fast parallel den ehemaligen Skispringer Primoz Roglic in einen Siegfahrer für grosse Radrundfahrten verwandelt hatte.
Gerüchte, wonach Vingegaard für seinen ersten Tour-Erfolg 2022 mit depressiven Momenten oder Burn-out-Phasen büsste, verneint er. «Ich hatte letztes Jahr keine Probleme, ich wollte einfach nur Abstand gewinnen», betonte er im Vorfeld der Frankreich-Rundfahrt und wiederholte dies am Samstag. «Ich nahm alles locker und entspannt.»
Die Öffentlichkeit glaubt ihm wohl nicht so recht, weil er im Vergleich zu seinem Gegenspieler Pogacar unnahbarer wirkt, zwischendurch von der Bildfläche verschwindet, etwas Kühles hat, nicht frisch von der Leber weg plaudert, sondern den Eindruck vermittelt, dass Interviews nach Siegen nochmals Arbeit bedeutet.
Die Kollegen schlagen andere Töne an. Vingegaard sei ein diskreter und bescheidener Mensch geblieben, sagen mehrere aktive und ehemalige Radprofis zu seinem Charakter. Einige Beobachter glauben auch, dass Vingegaard dank seiner Introvertiertheit die zahlreichen Trainingslager besser ertrage, weil ihm die Reduktion der sozialen Kontakte weniger Mühe bereite.
Die Trainingslager mit all den Entbehrungen sind bestimmt auch für die Nummer 1 des Radsports kein Zuckerschlecken. Aber der Däne hat in seiner Familie einen Zufluchtsort, der ihm Halt gibt. Seine Lebensgefährtin Trine Hansen und die zweijährige Tochter Frida bedeuten ihm alles, wie ein Nebensatz an der Pressekonferenz verrät: «Dieses Jahr war ich bislang mehr als 150 Tage von meiner Familie getrennt. Das sind die Opfer, die mich dann Rennen gewinnen lassen.»
Der beste Kletterer
Der Captain von Jumbo-Visma, einem Team aus der flachen Niederlande, gewann eine der härtesten Tours der Neuzeit, bei der eine Kletterpartie die nächste jagte. Dies gereichte Vingegaard bestimmt zum Vorteil. Pogacar wirkt zwar als Radfahrer kompletter, da er auch sprinten kann und Klassiker gewinnt, aber im Hochgebirge ist Vingegaard momentan stärker. Das machte den Unterschied zu Beginn der dritten Woche. Der Etappenplan war auf das Leichtgewicht aus dem Norden Dänemarks zugeschnitten – die offiziell angegebenen 60 kg dürfte er kaum auf die Waage bringen.
Drei Jahre dauert das Duell nun schon zwischen Pogacar und Vingegaard. Das Duell der beiden war heuer packend und zugleich von Freundschaft und Wertschätzung geprägt. Die beiden verstehen sich gut, sie respektieren sich und sie anerkennen die aussergewöhnlichen Leistungen des Gegenspielers.
In der Öffentlichkeit hingegen werden aussergewöhnliche Leistungen im Spitzensport immer angezweifelt. Und im Radsport angesichts der Geschichte erst recht. Vingegaard und Pogacar brachen in den Schlussanstiegen der Bergetappen fast täglich Rekorde. Erklärungsansätze wie verbesserte Aerodynamik der Velos, erhöhte Qualität des Trainings oder neue Energiegels- und Getränke, welche den Tank im Körpers stets gefüllt halten, überzeugen nicht alle.
Vingegaard sagte, er verstehe die vorhandene Skepsis nicht nur, sondern er begrüsse sie sogar. Sie trage dazu bei, dass sich gewisse Dinge nicht wiederholen würden. Der Däne beteuerte, dass seine Leistungen ohne illegale Substanzen zustande kämen: «Ich nehme nichts zu mir, was ich nicht auch meiner Tochter geben würde.»
hle, sda