Ricky Petrucciani steht trotz zuvor verkorkster Saison auf dem EM-Podest. Der Tessiner lässt für einmal auf der Zielgeraden nicht nach und gewinnt in München EM-Silber über 400 m in 45,03 Sekunden.
Der Teamkollege Lionel Spitz, der im gleichen Rennen Siebenter wurde, formuliert treffend: «Der Ricky schafft es einfach nicht, eine ganze Saison lang eine schlechte Saison zu haben.» Der Zürcher zielt mit diesem Spruch auf die mentale Stärke von Petrucciani ab: «Er steht nach Rückschlägen schnell wieder auf.»
Noch vor einem Monat an den Weltmeisterschaften in Eugene schied der Olympia-Halbfinalist in den Vorläufen in 46,60 Sekunden sang- und klanglos aus, unmittelbar zuvor hatte er an den Schweizer Meisterschaften in Zürich gegen Spitz eine Niederlage erlitten, weil er zum wiederholten Mal auf der Zielgeraden eingebrochen war. Damals verschwand Petrucciani wortlos in den Katakomben des Letzigrund, um den Frust zu verarbeiten. «Aber er ist ein fairer Typ. Er hat mir zum Sieg gratuliert und diese Woche in München sind wir mehr als Teamkollegen geworden», sagt Spitz. «Genial, dass die Schweiz eine Medaille hat.»
Überholen statt überholt zu werden
In München nun stand ein anderer Petrucciani auf der Bahn als in Zürich oder Eugene. «Kämpfen, kämpfen, kämpfen, bis zum Schluss. Auch wenn Du hinten bist.» Diese Worte des Trainers gingen ihm auf der Zielgeraden durch den Kopf und zeigten offenbar Wirkung. Der Tessiner, seit vergangener Woche mit einer 100-m-Bestzeit von 10,24 Sekunden im Palmarès, gilt als Schnellstarter, den man auf den letzten Metern noch packen kann. Er lebt von der Grundschnelligkeit. In München nun waren fast alle ob des Rennverlaufs überrascht. Petrucciani überholte, nachdem er nach der zweiten Kurve leicht im Hintertreffen gelegen hatte. Einzig den überlegenen Briten Matthew Hudson-Smith (44,53) schnappte er nicht.
Petrucciani wollte nichts wissen von einem verhaltenem Start. «Ich bin das Rennen angegangen wie immer. Aber hier in München fand ich schnell einen guten Rhythmus», analysiert er. Auf Bahn 8 musste er sich auf das Gefühl verlassen, denn er hatte die ganze Konkurrenz im Rücken.
«Ich bin überrascht, dass ich nach dieser Saison eine Medaille habe», gesteht der Tessiner, der gut Deutsch spricht und auch in der Deutschschweiz trainiert. Auf die Frage, wie er sich als Tessiner dem Deutschschweizer Publikum vorstellen würde, sagte er: «Ich bin der schnellste 400-m-Läufer der Schweiz.»
Dies stimmt bezogen auf die Gegenwart. Der Schweizer Rekord hingegen gehört immer noch Mathias Rusterholz, der 1996 in Lausanne in 44,99 als bislang einziger Schweizer die 45-Sekunden-Marke durchbrach. Petrucciani war schon zweimal nahe dran: 2021 in 45,02 und nun in 45,03. Sofern die noch ausstehenden Rennen auf warme Sommerabende wie in München fallen, bietet sich die Chance, um noch heuer mit 22 Jahren in der Statistik zum schnellsten Schweizer aufzusteigen.