Chronologie des Aufstiegs So wurde Giulia Steingruber zur grössten Schweizer Kunstturnerin

Von Luca Betschart

1.10.2021

Giulia Steingruber tritt zurück: «Die letzten Jahre waren sehr anstrengend»

Giulia Steingruber tritt zurück: «Die letzten Jahre waren sehr anstrengend»

Giulia Steingruber tritt zurück. Die St. Gallerin erklärte am Freitag an einer Medienkonferenz in ihrer Heimat Gossau wie erwartet den Rückzug vom Spitzensport.

01.10.2021

Giulia Steingruber hat im Schweizer Kunstturnern eine Ära geprägt. Nun nimmt sie mit 27 Jahren Abschied von der grossen Bühne. Ein Rückblick auf eine aussergewöhnliche Karriere.

Von Luca Betschart

1.10.2021

«Mein Körper ist nach über zehn Jahren im Spitzensport müde», erklärt Steingruber an der emotionalen Pressekonferenz in Gossau. Die Ostschweizerin gewann neben Olympia- und WM-Bronze am Sprung unglaubliche 37 Schweizer Meister- und sechs EM-Titel. Eine Chronologie des steilen Aufstiegs.



Die Anfänge

Bereits mit 13 Jahren wechselt das grosse Turntalent aus Gossau im Kanton St. Gallen nach Magglingen, wo nur die besten Athleten des Landes trainieren. Schnell kann sich auch Steingruber zu diesen zählen. Nach dem WM-Debüt im Alter von zarten 16 Jahren kürt sie sich ein Jahr später in sämtlichen Einzeldisziplinen (Sprung, Boden, Schwebebalken und Stufenbaren) und auch im Mehrkampf zur Schweizer Meisterin. An den Swiss Awards wird die Ostschweizerin zur Newcomerin des Jahres gewählt.

Die Olympia-Premiere

Bei der dritten EM-Teilnahme klappt es für die Schweizerin 2012 mit der ersten Medaille an einem Grossanlass. In Brüssel schafft sie es im Sprung, Steingrubers unbestrittenerer Paradedisziplin, auf den 3. Platz. An den Schweizer Meisterschaften ergattert sie im gleichen Jahr vier von möglichen fünf Goldmedaillen – nur am Balken muss sie sich mit Bronze begnügen. Und in London feiert Steingruber als jüngste Athletin der gesamten Schweizer Delegation ihre Olympia-Premiere. Im Sprung schafft sie es als Neunte in die Top Ten.

Erster Europameister-Titel

In Moskau vergoldet Steingruber ihre bisherige Laufbahn und avanciert im Sprung zur zweiten Schweizer Turn-Europameisterin der Geschichte nach Ariella Kaeslin (2009). Im Mehrkampf verpasst sie eine zweite Medaille als Vierte nur knapp. An der WM in Antwerpen gewinnt sie im Sprung ebenfalls nur Leder, als Fünfte am Boden und Siebte im Mehrkampf gehört Steingruber mittlerweile aber definitiv zur Weltelite. Der Lohn: Steingruber wird im Dezember zur Schweizer Sportlerin des Jahres ausgezeichnet.

Giulia Steingruber kann auf eine beeindruckende Laufbahn zurückblicken.
Giulia Steingruber kann auf eine beeindruckende Laufbahn zurückblicken.
Bild: Keystone

Der nächste Meilenstein

Als erste Schweizerin überhaupt schnappt sich Steingruber im Mehrkampf in Montpellier EM-Gold (2015). Es ist bereits der EM-Titel Nummer drei (zuvor 2x am Sprung). Zudem sichert sie sich mit Silber am Sprung sowie Bronze am Boden ihre EM-Medaillen sechs und sieben. Auch an der WM verblüfft die gebürtige Gossauerin im Mehrkampf mit Rang 5, bevor sie sich beim zweiten Versuch am Sprung am Knie verletzt. Steingruber muss die WM und die Saison vorzeitig abbrechen.

Das Zauber-Jahr 2016

Nach überstandener Verletzungspause findet das Aushängeschild schnell zurück zur Topform und jubelt an der Heim-EM in Bern über Gold im Sprung und am Boden. Wenig später führt sie die Schweizer Delegation bei den Olympischen Spielen in Rio als Fahnenträgerin an und feiert in Brasilien den grössten Erfolg ihrer Karriere: Am Sprung, ihrer Paradedisziplin schlechthin, ergattert Steingruber als erste Schweizer Kunstturnerin Olympia-Bronze. Es ist der Höhepunkt der eindrücklichen Karriere.

Im Anschluss wird Steingruber zurückgeworfen. Zuerst durch eine Verletzung, die sie sich mit grosser Wahrscheinlichkeit noch bei Stürzen im Olympia-Bodenfinal erlitt und zum Saisonabbruch und einer Operation zwang. Im Februar 2017 folgt mit dem Tod der Schwester ein Schicksalsschlag.

Die letzte Lücke im Palmarès

Erst im September 2017 gibt Steingruber ihr Comeback und wird Schweizermeisterin im Mehrkampf – zum siebten Mal in Folge bei der achten Teilnahme. Wenig später überrascht die unermüdliche Kämpferin in Montréal mit WM-Bronze, sie schliesst so auch die letzte Lücke in ihrem Palmarés. Zudem klassiert sie sich im Mehrkampf im starken siebten Rang.

Ein Kreuzbandriss setzt Steingruber danach fürs Jahr 2018 komplett ausser Gefecht, erst im September 2019 kehrt sie in den Wettkampf-Alltag zurück und schlägt sich bei den Schweizer- und Weltmeisterschaften beachtlich. Dann sorgt die Corona-Pandemie für die nächste lange Auszeit, während der Steingruber erstmals Rücktritts-Gedanken durch den Kopf gehen. Das letzte grosse Ziel, die dritte Olympia-Teilnahme, lässt einen Abschied in dieser Phase aber nicht zu.

Das Schlussbouquet

Nach einer über eineinhalbjährigen Auszeit kehrt Steingruber an der EM 2021 auf die grosse Bühne zurück. Und wie! In Basel turnt sie im Sprung überlegen zu Gold und holt sich den sechsten und letzten EM-Titel in ihrer Laufbahn. Und das, obwohl sie für den Mehrkampf- und den Bodenfinal wegen eines Muskelfaserrisses passen muss. Nach der insgesamt zwölften Medaille an internationalen Grossanlässen sagt sie mit einem Lachen: «Meine Karriere dauert nicht mehr ewig.»

Der letzte grosse Coup: Steingruber jubelt im April dieses Jahres über EM-Gold im Sprung.
Der letzte grosse Coup: Steingruber jubelt im April dieses Jahres über EM-Gold im Sprung.
Bild: Keystone

Mit der Reise nach Tokio erfüllt sich Steingruber in diesem Sommer das letzte grosse Ziel einer dritten Olympia-Teilnahme. Während sie den Sprungfinal hauchdünn verpasst, schafft die 27-Jährige den Sprung in den Mehrkampffinal, wo sie am Ende 15. wird. Es ist ein mehr als würdiger Abschluss einer zwar «nicht ewig dauernden», aber definitiv ewig währenden Karriere.