Heute vor zwölf Jahren holte Sergej Aschwanden in Peking Olympia-Bronze im Judo. Der heutige Schweizer Verbandspräsident blickt zurück auf diesen grossen Tag.
Seine für Aussenstehende bitterste Niederlage bezeichnet Sergei Aschwanden selbst rückblickend als «schönsten Erfolg» seiner Karriere. Denn das Auftakt-Ausscheiden 2004 in Athen schärfte dem Judoka den Fokus für den Gewinn von Olympia-Bronze 2008 in Peking.
Bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney und 2004 in Athen war Aschwanden jeweils nach einem Kampf in der 81-kg-Kategorie ausgeschieden. Vor allem die Auftakt-Niederlage in Athen gegen einen mässig reputierten Argentinier, den der Schweizer in neun von zehn Kämpfen wohl besiegt hätte, war ein massiver Tiefpunkt.
Aus dem wegen Athen teilweise als «Olympia-Versager» abgekanzelten Aschwanden wurde aber mit gestähltem Nervenkostüm doch noch ein Olympia-Held. Vor allem die Art und Weise, wie sich der heute 44-jährige Sohn eines Urners und einer Kenianerin in Peking eine der beiden Olympia-Bronzemedaillen in der Kategorie bis 90 kg erkämpfte, war spektakulär, dramatisch, ja filmreif.
«In Athen machte mir in die Hose»
Der heutige Präsident des Schweizer Judo-Verbandes erinnert sich noch genau an seinen heroischen Lauf. Wie ein Panzer pflügte sich der zweifache Europameister und WM-Medaillengewinner durch die hochkarätige Konkurrenz. Vor allem aber hielt der Waadtländer mit Berner Kindheit auf bravouröse Weise dem eigenen Druck stand.
«In Sydney war das Ausscheiden gegen den Esten Aleksej Budolin eine enge Kiste. Ein Kampf gegen einen starken Gegner auf hohem Niveau. Ich konnte damit leben, auch wenn es hart war. In Athen hielt ich dem Druck nicht stand und machte mir 'in die Hose'. Ich war mental nicht auf der Höhe. Man muss dies im hinterher klipp und klar sagen», betont Aschwanden gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
«Ich weiss, dass es noch anderes gibt im Sport als nur diese Medaille»
Aschwanden macht sich selbst nichts vor und legt in der Selbstreflexion nach: «Ich konzentrierte mich nicht auf das Wesentliche, nämlich den Typ zu besiegen.» Für jene Niederlage sei er indessen dankbar. «Sie machte mich stärker und hilft mir bis heute auch im Alltag. Ich weiss nun beispielsweise, dass es noch anderes gibt im Sport als nur diese Medaille, selbst wenn du dein ganzes Leben in den Sport investierst.»
Bei Olympia in Peking befand sich Aschwanden vier Jahre später bereits im 33. Altersjahr. «Ich wusste, dass es meine letzte Chance auf Edelmetall sein würde.» Im Vorfeld jener Spiele hätten Trainer Leo Held und er selbst alle Szenarien visualisiert – vom erneuten Erstrunden-Ausscheiden bis zum Olympiasieg. «Dadurch konnte ich mich immer auf die nächste Aufgabe konzentrieren und verschwendete keine Gedanken auf den Gewinn einer Medaille. Deshalb bliebt ich auch bis zum Schluss so fokussiert.»
Jonglieren mit acht Bällen
Die Widerstandsfähigkeit für den Medaillen-Coup erarbeitete sich der heute vierfache Familienvater Aschwanden auch durch die Zusammenarbeit mit einem unkonventionellen Mental-Trainer. Sein eigener Coach Leo Held hatte den St. Galler Manfred Gehr an einem Seminar kennengelernt. Gehr stärkte Aschwandens Vorstellungskraft und deren Umsetzung in die Realität.
«Der Typ provozierte mich dann bei den Treffen. Er bewies mir anhand von konkreten Beispielen, dass, selbst wenn etwas völlig unmöglich scheint, es zu schaffen doch möglich ist. Wenn man gezielt daran arbeitet, kann es möglich werden.» So lernte Aschwanden beispielsweise, mit immer mehr Bällen und am Ende sogar mit deren acht zu jonglieren.
Resilienz als Erfolgsschlüssel
Aschwanden beeindruckte dann auf dem Tatami in Peking mit Entschlossenheit und enormer Abgeklärtheit. Er wirkte geduldig und jeder Wettkampfsituation gewachsen, spielte Instinkt und Erfahrung aus, demonstrierte Willensstärke und zeigte eine imponierende Ausdauer.
Mit fünf Siegen bei nur einer Viertelfinal-Niederlage erkämpfte er sich gegen zumeist grössere Gegner den wertvollsten Erfolg seiner Karriere. Insgesamt stand Aschwanden nach seinem Viertelfinal vergleichsweise über zehn Minuten länger auf der Judo-Matte als der russische Halbfinal-Verlierer Iwan Perschin, der von Aschwanden dann aber im Bronze-Kampf dennoch vorzeitig bezwungen wurde.
Fast zur Nebensache geriet bei Aschwandens Lauf, dass er sich in der 2. Runde erstmals überhaupt gegen Europas zweifachen Judoka des Jahres, den niederländischen Olympiasieger von Sydney 2000, Mark Huizinga, mit Ippon durchsetzte.
«Ich hatte gegen Huizinga drei Wochen vor Olympia an den deutschen internationalen Meisterschaften im Halbfinal gekämpft. Ich dominierte den Kampf da bereits ganz deutlich, verlor aber kurz vor Schluss wegen einer kurzen Unkonzentriertheit», erinnert sich Aschwanden.
Versprechen statt Analyse
Aschwandens Trainer Leo Held wollte jene Niederlage mit seinem Schützling sofort analysieren. «Das wollte ich aber auf keinen Fall. Ich versprach einfach, dass ich ihn bei Olympia garantiert schlagen werde.»
Im zweiten Kampf in Peking kam es tatsächlich dazu. Also führte kein Weg an Aschwandens Einlösen des Versprechens vorbei. «Sonst hätte Leo Held den Rest des Lebens nicht mehr mit mir geredet.» Tatsächlich liess Aschwanden den hochdekorierten Huizinga dann wie einen Aufbaugegner aussehen.
Besonders eindrucksvoll war, wie sich Sergei Aschwanden später im Hoffnungsrunden-Final durchsetzte. Dem technisch variablen und enorm wuchtigen Brasilianer Eduardo Santos hielt Aschwanden wie die chinesische Mauer stand.
32 Sekunden vor Ablauf des fünfminütigen Golden Score wurde Aschwanden vom Kampfgericht bereits als Shido-Sieger erklärt. Dieser Entscheid wurde aber vom oberen Kampfgericht wieder rückgängig gemacht. Aschwanden, der bereits jubelnd abgedreht hatte, behielt aber die Nerven und gab in den letzten Sekunden nochmals alles. Da es zu keiner Wertung mehr kam, wurde der Kampfrichter-Entscheid fällig. Alle drei weissen Fahnen erhoben sich – Aschwandens Weiterkommen war perfekt.
Aschwanden sagt heute: «An dem Tag, als ich die Medaille gewann, war das Feuer für mich gelöscht. Ich wollte seither nicht mehr in den Leistungssport zurückkehren und in erster Linie beruflich vorankommen. Es war nach diesem Erfolg für mich einfach aufzuhören.»