Marlen Reussen kann es im Ziel kaum fassen, dass sie den EM-Titel im Zeitfahren erfolgreich verteidigt hat. Sie fühlt sich während des Rennens alles andere als gut.
Während der Siegerehrung in Fürstenfeldbruck, das etwas ausserhalb von München liegt, schüttelte Reusser leicht den Kopf. «Es rattert enorm in meinen Kopf», sagte sie danach gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Kein Wunder, hat die Bernerin doch eine Achterbahn der Gefühle hinter sich.
Nachdem sie 2021 Olympia-Silber und EM-Gold im Zeitfahren gewonnen hatte, ging der «gute Flow» bis im Frühling weiter. Anfang Juni verletzte sie sich bei der World-Tour-Rundfahrt in England nach einem Sturz am Handgelenk, danach verpasste sie krankheitshalber die Tour de Suisse. Ende Juli gewann sie an der Tour de France der Frauen die vierte Etappe, zwei Tage später musste sie die Tour nach einem Sturz wegen einer Gehirnerschütterung aufgeben. Und nun ist sie erneut Europameisterin. All das macht den Triumph für sie «wirklich speziell».
Nach wie vor ein grosses Abenteuer
Es war für Reusser die dritte «ordentliche» Gehirnerschütterung im Radsport. Sie wurde schnell müde, konnte aber in einem dunklen Raum etwas auf einer Rolle fahren. Nach zehn Tagen begann sie wieder mit «richtigem» Training, absolvierte sie während einer Woche kurze und intensive Einheiten. Würde das reichen?
Während des Rennens fühlten sich ihre Beine dann alles andere als gut an, Reusser verwendete das Wort harzig. «Es war pickelhart», sagte die 30-Jährige. Da es mit den Informationen ins Ohr nicht klappte, wusste sie nicht, wie sie unterwegs war. «Ich musste mit mir selber 'dealen', sagte zu mir: 'Marlen gibt nicht auf. Fahr einfach.' So versuchte ich, mich ins Ziel zu treiben.» Insofern konnte sie es trotz ihres neuen schnellen Velos fast nicht glauben, dass sie gewonnen hatte. «Es führen so viele Wege nach Rom», wurde Reusser philosophisch. «Das macht das Ganze voll interessant.»
Der Sport ist für sie ein Spiel, von daher schätzt sie die Unwägbarkeiten. «Ich finde es nicht cool, wenn ich weiss, dass ich sowieso gewinne.» Sie stellt sich gerne ihren Schwächen, dem nötigen Prozess, den es braucht, um erfolgreich zu sein. Ohnehin ist sie jemand, der stets Herausforderungen sucht. Das Profi-Leben, das sie erst seit 2019 ausübt, schätzt die vielseitig interessierte Reusser. «Es ist immer noch ein grosses Abenteuer für mich, es passiert stets etwas. Ich bin jemand, der gerne Action hat. Im Moment ist mir noch nicht langweilig.»
Stürze geben «etwas zu denken»
Sie ist aber froh, nicht schon ewig dabei zu sein und alles relativieren zu können. Den Radsport bezeichnet sie als eine Bubble, eine eigene Welt. «Die Mehrheit weiss nicht einmal, wer hier fährt. Dem bin ich mir bewusst.» Mühe bereiten ihr die vielen Stürze, die es in ihrem Sport gibt, diese geben ihr «schon etwas zu denken. Die Freude und Lust mitzufahren überwiegt aber.»
Am Sonntag wird Reusser noch das EM-Strassenrennen bestreiten, dann steht ein Hitzetraining an, in dem sie nochmals am Zeitfahren arbeiten wird. In der Folge fährt sie als letzte Vorbereitung auf die WM im australischen Wollongong (18. bis 25. September) die Vuelta. Was macht sie eigentlich mit der Medaille? Nach dem Gewinn von Olympia-Silber in Tokio sagte sie, dass sie diese Nationaltrainer Edi Telser schenke werde – dieser lehnte ab. «Ich behalte sie. Zwar passt sie nicht so in gut in meine Sammlung, da sie eine komische Form (dreieckig) hat. Sie passt allerdings zum komischen Sieg.»