Vor 37 Jahren Weltrekord dank Rückenwind und «nichts ausser Vitaminen»

SDA

8.6.2020 - 05:34

Marlies Göhr distanzierte sich stets vom Vorwurf des Dopings.
Marlies Göhr distanzierte sich stets vom Vorwurf des Dopings.
Source: Getty

Am 8. Juni 1983 verbessert Marlies Göhr den eigenen Weltrekord über 100 m auf 10,81 Sekunden. Noch heute wäre sie damit bei Titelkämpfen auf Medaillenkurs. Vom DDR-Staatsdoping will sie nichts wissen.

Als die DDR-Sprinterin Marlies Göhr am 8. Juni 1983 in Ostberlin einen Weltrekord über 100 m lief, sollten diese 10,81 Sekunden keine Marke für die Ewigkeit sein. Nicht einmal für eine halbe. Schon knapp vier Wochen später war Evelyn Ashford, Göhrs grosse Rivalin aus den USA, zwei Hundertstel schneller. Und doch war Göhrs Leistung vor 37 Jahren im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark bemerkenswert. Noch 2017 hätte ihre Zeit an der WM die Goldmedaille gebracht, an der WM im letzten Jahr hätte sie für Silber gereicht.

Aber zurück ins Jahr 1983 und in den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, diesem Mekka für den DDR-Sport, dieser Geburtsstätte so vieler Rekorde, dieser Bühne der Macht der Deutschen Demokratischen Republik in der Leichtathletik. Man feierte an diesem 8. Juni 1983 mal wieder den DDR-Sport am traditionsreichen Olympischen Tag von Ostberlin. Wieder sollten die Rekorde purzeln. In keinem Wettbewerb war dies in so bemerkenswertem Ausmass der Fall wie im 100-m-Rennen der Frauen. Auch Marita Koch, ebenfalls eine Rivalin von Göhr, in ihrem Fall aber nicht aus dem Lager des Klassenfeindes, sondern die grosse Konkurrentin aus dem eigenen Team, lief eine Zeit unter dem bisherigen Weltrekord von 10,88.

«Ein Männerrekord!»

Die Branche war begeistert und beeindruckt, das Publikum sowieso. Das sei ein «Männerrekord!» brüllte der Stadionsprecher durch das weite Oval. Männerrekord? Der Stuttgarter Sprinter Axel Schaumann, in jenem Jahr deutscher Meister über 100 m Hürden, staunte jedenfalls ungläubig: «Das ist ja unfair, da rennen zwei Frauen so schnell wie ich.» Unfair? Vielleicht, doch dazu machten sich Sportszene und -Justiz erst Jahre später ihre Gedanken. Im Frühsommer 1983 sah man ganz profane Gründe für die fabelhaften Zeiten in diesem 100-m-Rennen: ideale Temperaturen am frühen Abend von etwas über 20 Grad, perfekter Rückenwind von 1,7 m pro Sekunde, das Duell der beiden Sprintstars Göhr und Koch, die sich gegenseitig anstachelten.

So wurde der Olympische Tag von Ostberlin zum Start in einen Leichtathletik-Sommer, der geprägt war von den DDR-Athleten – nicht zuletzt von Marlies Göhr. Zwei Monate später wurde die damals 25-Jährige aus Jena Weltmeisterin in Helsinki – vor Koch und Ashford, die im Final stürzte. Der 100-m-Final der Frauen war der Auftakt zu Titelkämpfen im Zeichen der DDR. Am Ende hatten die Leichtathleten aus dem Arbeiter- und Bauernstaat 10-mal Gold, 7-mal Silber und 5-mal Bronze geholt. 1. Platz im Medaillenspiegel!

Bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau hatten die Athleten aus den USA die Wettkämpfe boykottiert. 1984 in Los Angeles reisten keine Sportler aus den kommunistischen Ländern an. Doch 1983 an der WM in Helsinki waren sie alle dabei: alle Amerikaner und alle Sowjets – doch die Besten waren Marlies Göhr, Marita Koch und Co. Die Dominanz der DDR-Leichtathleten strahlte über den Sport hinaus. Das (Sport-)Image des DDR-Regimes glänzte.

Anabolika, KS33

Dass die vielen Erfolge der DDR sehr viel mit Doping zu tun hatten, wurde erst Jahre später und nach dem Ende des Kommunismus in Europa aufgearbeitet. Göhr stand dabei als eine der Vorzeigeathleten des DDR-Sportregimes im Fokus. Schnell wurde die Verbindung zu ihrem Trainer Horst-Dieter Hille hergestellt, der in den Neunzigerjahren zugab, seinen Athletinnen und Athleten Anabolika-Tabletten verabreicht zu haben. Für Göhr gab es eine Codenummer im System des Anabolika-Dopings: KS33.

Im Gegensatz zu ihrer Staffelkollegin Ines Geipel, die das System des organisierten Dopings später anprangerte, ihren Namen aus den Rekordlisten streichen liess und zu einer Ikone der Aufarbeitung des DDR-Staatsdopings wurde, distanzierte sich Göhr stets vom Vorwurf des Dopings. Ihr Name wurde im Laufe der Zeit von schnelleren Athleten aus den Rekordlisten gelöscht – und nicht von Dopingjägern, Funktionären und der Sportjustiz. Damit konnte Göhr leben. Wie Geipel freiwillig auf die Meriten verzichten? Nie im Leben! Denn Unrechtes will Göhr nie gemacht haben, auch nicht unwissentlich. 20 Jahre nach ihrem Weltrekord von 1983 sagte sie in einem Interview: «Ich wusste, was ich nahm – nichts ausser Vitaminen!»

SDA

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