Kommentar Wie der Sport Stück für Stück seine Seele verkauft

Von René Weder

30.9.2019

Die tschechische Geherin Anezka Drahotova ist wie viele ihrer Kolleginnen am Ende ihrer Kräfte angekommen.
Die tschechische Geherin Anezka Drahotova ist wie viele ihrer Kolleginnen am Ende ihrer Kräfte angekommen.
Bild: Keysotne

Die Leichtathletik-WM in Doha bietet vieles: Eine perfekte TV-Produktion, ein grossartiges Stadion und emotionale Momente. Was der Veranstaltung fehlt, sind Herz, Seele – und Verstand. Sie ist im Kern ein trauriger Vorgeschmack auf die Fussball-WM in drei Jahren. Ein Kommentar.

Es ist ein Bild für die Geschichtsbücher: Shelly-Ann Fraser-Pryce hat soeben ihre vierte WM-Goldmedaille über 100 Meter gewonnen und feiert mit ihrem zweijährigen Sohn im Arm diesen historischen Moment. Die 32-jährige Jamaikanerin liefert in Doha ein unglaubliches Comeback als Mutter und lässt der Konkurrenz in der Siegerzeit von 10,71 Sekunden nicht den Hauch einer Chance. Fraser-Pryces Botschaft: «Meinen Sohn zu haben und so zurück zu kommen ... Ich hoffe, ich kann alle Frauen inspirieren, die eine Familie haben oder dabei sind, eine zu gründen», sagt sie im Interview.

Shelly-Ann Fraser-Pryce freut sich mit Söhnchen Zyon zu später Stunde in Doha.
Shelly-Ann Fraser-Pryce freut sich mit Söhnchen Zyon zu später Stunde in Doha.
Bild: Keystone

Ihre Message kommt an, die Bilder gehen um die Welt, aber vor Ort applaudieren der Jamaikanerin bestenfalls ein paar Teamkollegen, Familienangehörige und heimische Journalisten. Am TV mag das nicht weiter auffallen, allein wenn das «Khalifa International Stadium» in der Totalen gezeigt wird, dämmert es: Hier, wo die Hälfte der Sitze mit Planen abgedeckt und ein grosser Teil der verbleibenden Stühle unbesetzt ist, interessiert sich kaum einer für Fraser-Pryce und ihr Comeback.

Unzumutbare Bedingungen

Auch bei den nächtlichen Rennen ausserhalb des Stadions, bei den Gehern und den Marathon-Läuferinnen etwa, dasselbe Bild: Die 2,7 Millionen Einwohner, die sich eine Fläche so gross wie ein Viertel der Schweiz teilen, interessiert das Geschehen an der WM nicht. Man kann es ihnen kaum verübeln, denn das heisse (sogar nachts wird es über 30 Grad) und feuchte (rund 85 Prozent Luftfeuchtigkeit) Klima ist nicht gemacht für solche Rennen unter freiem Himmel. Zu keiner Jahreszeit und auch zur Geisterstunde nicht.



Die unzumutbaren Bedingungen führten am Wochenende letztlich dazu, dass der Marathon der Frauen von Medien und Läuferinnen als «Massaker» und «kollektiver Selbstmord» beschrieben wurde: Ein gutes Drittel der Gestarteten erreichte das Ziel nicht. Bilder von nahe am Kollaps laufenden Athletinnen und solchen, die den Kampf gegen die Hitze bereits verloren hatten und im Rollstuhl hospitalisiert werden mussten, erschütterten am Samstagmorgen die Zuschauer und Leser in Europa, die das Rennen nicht live am TV mitverfolgten. Über die kenianische Siegerin Ruth Chepngetich wurde nur am Rande berichtet. Die französische Sportzeitung «Equipe» fragt deshalb: «War es angemessen, dieses Rennen durchzuführen?» Um es kurz zu machen: Nein, war es nicht.

Männer-Marathon absagen oder ins klimatisierte Stadion verlegen?

Die Alarmglocken im Hinblick auf den Männer-Marathon am 6. Oktober schrillen lauter als je zuvor. So schreibt der deutsche «Spiegel» unter dem Titel «Versuchskaninchen im Namen des Kommerzes»:

«Sollte es noch einen Nachweis benötigt haben, dass die Vergabe der Titelkämpfe nach Katar nicht im Interesse der Sportlerinnen und Sportler geschehen ist, dann hat der Marathon der Frauen ihn geliefert. Am letzten Wettkampftag soll der Marathon der Männer stattfinden. Es bleiben nun zwei Optionen: Die Veranstaltung ins heruntergekühlte Stadion zu verlegen (...) oder den Wettkampf absagen. Erneute Bilder von kollabierenden Spitzensportlern kann sich dieser Verband bei all den anderen Negativschlagzeilen kaum erlauben.»

Die IAAF spielt die Vorkommnisse herunter

Allein: Der Internationale Leichtathletikverband IAAF geht auf Tauchstation – und relativiert die Geschehnisse nach dem Frauen-Marathon. Keine einzige Aufgabe sei auf einen Hitzschlag zurückzuführen, teilte der Verband mit und verteidigt sich mit einem Verweis auf andere Wettbewerbe: Auch 1991 in Tokio und 2013 in Moskau habe es «vergleichbare» Quoten an Aufgaben gegeben. Eine merkwürdige Begründung ausgetragen auf dem Buckel jener Sportler, die um eine seltene WM-Medaillenchance gebracht werden.

Die Leichtathletik-WM reiht sich übrigens in eine Serie sportlicher Grossanlässe auf der arabischen Halbinsel ein. In Katar folgt eine WM auf die nächste. Ob Schwimmer, Handballer, Radfahrer, Turner oder nun eben die Leichtathleten: Die grossen Verbände erliegen in den letzten Jahren scharenweise dem Lockruf des Wüstenstaates. Dabei spielt Geld fraglos eine Rolle. Der Kommerz regiert, die Seele des Sports bleibt auf der Strecke.

In drei Jahren folgt der Höhepunkt: Dann findet vom 21. November bis zum vierten Advent am 18. Dezember 2020 in Katar die Fussball-WM statt. In klimatisierten Stadien – ein Affront in Anbetracht der Klimadiskussionen, die hierzulande geführt werden. Die Vorfreude ist denn auch überschaubar.

Zurück zur StartseiteZurück zum Sport