Dominic Lobalu, der in der Schweiz heimisch gewordene Kriegsflüchtling, dürfte die Weltmeisterschaften in Budapest verpassen. Dies wird am Rande der Schweizer Meisterschaften in Bellinzona klar.
Das Gesuch von Swiss Athletics, Lobalu an der WM in drei Wochen für die Schweiz starten zu lassen, obwohl er den Schweizer Pass noch nicht besitzt, ist nach wie vor hängig. «World Athletics hat uns auf Nachfrage mitgeteilt, dass wir nicht mit einem Entscheid vor Budapest rechnen sollen», sagt Christoph Seiler, Präsident beim nationalen Verband. «Wir bedauern sehr, dass für einen Athleten von diesem Niveau noch keine Lösung gefunden wurde. Wir hoffen nach wie vor auf einen positiven Entscheid in den kommenden Tagen.»
Seit vier Jahren trainiert der aus dem Südsudan geflüchtete Lobalu in der Ostschweiz mit dem LC Brühl und sorgt mit seinen Leistungen auf den Mittelstrecken international für Aufsehen – 2022 war er die Nummer 6 über 5000 m. Sein Ziel: Als erster Flüchtling an internationalen Titelkämpfen eine Medaille gewinnen.
Das Potenzial dazu wäre vorhanden, die Startberechtigung allerdings nicht. An den Schweizer Meisterschaften in Bellinzona durfte der 24-Jährige über 1500 m nur im Vorlauf antreten, weil er nicht titelberechtigt ist, und die globalen Titelkämpfe bleiben ihm verwehrt, weil er nicht mehr in ein Flüchtlings-Team aufgenommen wird.
Als Flüchtling aufgewachsen
Lobalus Geschichte ist tragisch und in Sachen Startberechtigungen äusserst komplex. Der bald 25-Jährige kam im Südsudan zur Welt. Im Alter von neun Jahren wurden seine Eltern bei einem Überfall erschossen. Er musste fliehen, wuchs als Flüchtling in Kenia auf, kam dort 2016 in das zwei Jahre zuvor gegründete «Athlete Refugee Team» und setzte sich 2019 bei einem Wettkampf in Genf von dieser Truppe ab – einerseits weil nicht er, sondern die Leute hinter dem Flüchtlingsteam die Preisgelder kassierten, andererseits weil er sich eine eigene Existenz aufbauen wollte.
In Sachen Existenz ist der Afrikaner auf gutem Weg. Die Schweiz anerkannte ihn 2019 zwar nicht als Flüchtling, weil er keine individuelle Verfolgung geltend machen konnte. Aber als vorläufig Aufgenommener integrierte er sich gut, hat nun den B-Ausweis-Status in der Schweiz, und er verdient seinen Lebensunterhalt inzwischen voll und ganz selber.
Als Leichtathlet ist er aber zwischen Stuhl und Bank gefallen. Den Schweizer Pass erhält er frühestens 2031, und beim Weltverband klappt es derzeit auch nicht mehr, weil er sich aus dem Prestigeprojekt, dem Flüchtlings-Team, abgesetzt hat.
World Athletics hin und hergerissen
Alle anerkennen den Weg, den Lobalu geht, und auch World Athletics ist hin und hergerissen. Einerseits machte der Weltverband sein Mitglied Swiss Athletics darauf aufmerksam, dass ein Athlet unter gewissen Voraussetzungen auch ohne Staatsbürgerschaft für ein Land an den Start gehen kann. Swiss Athletics reagierte prompt und deponierte am 6. April ein entsprechendes Gesuch – und wartet nun auf einen Entscheid, obwohl dieser eigentlich innert drei Monaten (6. Juli) gefällt werden müsste. «Ich bin enttäuscht von World Athletics», betont Seiler. «Der Weltverband hat uns und dem Athleten den Weg vorgezeichnet, aber entscheidet jetzt nicht. Dies ist nicht im Sinne des Sports.»
World Athletics tut sich offenbar schwer, weil es sich um einen Präzedenzfall handelt. Es geht um mehr als die Tatsache, dass das Flüchtlingsteam Probleme mit Visa und dem Image kriegt, wenn sich ständig Athleten absetzen. Es geht auch um grundsätzliche Fragen im Sport: Was braucht es, um ein Land zu repräsentieren? Machen Nationen im Sport noch Sinn? Wie reagiert das IOC? Wem würden die gewonnenen Medaillen und Rekorde zugeordnet?
Das National Review Panel von World Athletics scheint die Sache zumindest für die WM in Budapest auszusitzen. Denn wenn Swiss Athletics in diesen Tagen keine Antwort erhält, kann der Schweizer Verband Lobalu auch nicht für die WM in drei Wochen melden.
hle, sda