Christina Nigg (59) ist seit Anfang Monat Leistungssportchefin bei Swiss Boxing. Sie zeichnet zusammen mit Nationaltrainer Federico Beresini für die Belange der Kader-Boxer verantwortlich.
Nigg ist in der Schweiz nicht die einzige Frau als Leistungssportchefin in einer olympischen Vollkontakt-Kampfsportart. Monika Kurath, bis heute die einzige Schweizer WM-Medaillengewinnerin im Judo (Bronze 1997 im Limit bis 48 kg), ist bei Swiss Wrestling in entsprechender Funktion tätig.
Auch Christina Nigg war zu Aktivzeiten äusserst erfolgreich. Vor gut zwei Jahrzehnten war sie die erste Schweizer Profibox-Weltmeisterin. Danach erweiterte die Berner Oberländerin ihren Rucksack als Managerin und Trainerin. Ihr Sohn Mischa war überdies einst ein Profiboxer mit respektabler Bilanz (9:1 Siege).
2005 schloss Nigg zudem ein Studium in Sportmanagement mit der Maximalnote ab. In ihrer Abschlussarbeit hatte die heute 59-Jährige unter dem Titel «Faszination Boxen» eine Analyse der aktuellen Weltbox- sowie Schweizer Szene vorgenommen. Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA äussert Sie sich zur aktuellen Situation.
Wie lautet Ihre Analyse zur vergangenen beziehungsweise aktuellen Situation im Schweizer Boxsport?
«Es mangelte an Professionalität. Es ging und geht darum, Strukturen zu erarbeiten. Es beginnt bei den Stellenprofilen. Wer hat welche Aufgaben und welche Kompetenzen? Wer ist Ansprechpartner für wen? Es fiel mir beispielsweise auf, dass fast kein Feedback von den in den Klubs trainierenden Boxer gefragt war. Es interessierte quasi nicht, wie die Klubangehörigen das Angebot und das Training empfanden und welche Verbesserungsvorschläge sie allenfalls hätten. Und dies unabhängig davon, auf welcher Stufe sich die Athleten befanden.»
Was waren die ersten Reaktionen in der Box-Szene nach Bekanntgabe Ihres Engagements als Leistungssportchefin?
«Durchaus positiv. Es gab viele, die auch lange darauf gewartet hatten, dass nun Strukturen erarbeitet werden. Diejenigen, die mich nicht mögen oder als Besserwisserin einstufen, von denen weiss ich nicht, wie sie auf meine Ernennung reagierten. Doch was hinter meinem Rücken geredet wird, weiss ich nicht. Das ist ja überall so.»
Welche Arbeiten sind Sie bislang angegangen?
«Federico Beresini, mit dem ich hierarchisch gleichgestellt bin, und ich haben ein aktualisiertes Spitzensportler-Konzept erstellt. Ich bin auch für absolute Transparenz. Alle Neuerungen und Projekte werden laufend auf swissboxing.ch aufgeschaltet. Auch die Athleten können sich dort informieren.»
Welche Erfahrungen haben Sie als Boxerin, als Trainerin und als Managerin gesammelt?
«Ich kenne die Ansprüche, die ich als Athletin hatte. Was brauche ich, um in der Karriere vorwärts zu kommen. Als Coach muss man den Athleten begleiten. Immer wieder schauen, dass der richtige Schritt folgt. Er muss gefordert, aber nicht überfordert werden. Manchmal geht es auch einen Schritt zurück. Doch vor allen Dingen muss man nicht meinen, dass man nach dem Schweizer Meistertitel gleich an Olympia teilnehmen kann. Es sind zahlreiche Zwischenschritte dafür notwendig. Schliesslich gibt es weitere Richtlinien, die berücksichtigt werden müssen, die von Swiss Olympic oder den internationalen Boxverbänden kommen.»
Die Schweizer Boxszene war in der Vergangenheit oft von gegenseitigen Animositäten geprägt ...
«Bei uns sind viele Berge dazwischen. In den Niederlande ist man schnell von A nach B. Deshalb habe ich hierzulande auch Leistungs-Stützpunkte initiiert. Es gibt nun überregionale Zusammenarbeit in Bern-Mittelland und Basel, in der Ostschweiz sowie der Romandie und dem Tessin. Gefehlt hatte früher der Informations-Austausch, es gab auch keine Zielvorgaben. Ich selbst bin um jedes Feedback aller Trainer froh. Ich habe nun die Strukturen erarbeitet, die ein besseres Miteinander ermöglichen sollen. Ohne gute Trainer in den Klubs, haben wir keine guten Boxer. Mein Anliegen ist, dass jeder Trainer die bestmögliche Unterstützung erhält.»
Am letzten Olympia-Qualifikationsturnier in London vom März mit sechs Schweizer Teilnehmern gab es einige Kommunikations-Pannen. Zunächst hiess es von Verbandsseite, niemand sei infiziert. Dann beklagte sich Angel Roque, der sich doch angesteckt hatte, über das ausgebliebene Interesse des Verbandes an seinem Befinden nach der Heimkehr ...
«Ich war schon verschiedentlich als Delegationsleiterin oder verantwortliche Trainerin bei grösseren Turnieren im Einsatz. Vor Ort hätte ich mich beim Veranstalter vor Ort täglich informiert und die Gefahrenlage abgeschätzt, ob ich die Athleten weiter teilnehmen lasse. Je nachdem hätte ich den Entscheid auch nach Rücksprache mit der Verbandsführung getroffen. Denn wenn es mir bei einer Sache nicht wohl ist, ist es an mir als Delegationsleiter, zu kommunizieren und nachzufragen. Ich richtete selbst immer einen engmaschigen Chat ein, in dem der Heimtrainer, die Verbandsführung oder die Angehörigen integriert waren. Und nach der Rückkehr von einem solchen Ort wie jetzt in London, hätte ich noch durch den Verbandsarzt oder anderweitig medizinische Untersuchungen veranlasst. Das ist meine Ansicht.»
Seit 1972 war kein Schweizer Boxer mehr an Olympia dabei. Wie soll sich dies ändern?
«Zwischen Vision und Traum muss unterschieden werden. Jeder soll den Traum haben, Weltmeister oder Olympiasieger zu werden. Aber der Weg dahin ist nicht einfach. Um einen ersten Schritt in die entsprechende Richtung realistisch gehen zu können, muss zuerst einmal der Meister aus den umliegenden Ländern besiegt werden können, also zum Beispiel den deutschen, französischen oder italienischen Meister. An Europameisterschaften sind dann die entsprechenden Hürden aus starken Box-Nationen nochmals höher. Denn um einen der europäischen Olympia-Quotenplätze zu ergattern, ist quasi ein Halbfinal-Vorstoss und damit ein Medaillengewinn auf EM-Level erforderlich.»
Ukë Smajli hatte an den letztjährigen Weltmeisterschaften in den Achtelfinals den deutschen Meister am Boden, verlor den Kampf aber dennoch. Aber Smajli gilt als aktuell aussichtsreichster Schweizer Olympia-Anwärter?
«Ich werde mich mit ihm über seine Zieldefinition nächstens unterhalten. Ich habe mitbekommen, dass für ihn aktuell gerade das Wirtschafts-Studium Priorität hat. Die Kontinuität hinter Smajli ist nicht gewährleistet. Da müssen erst noch Athleten herangeführt und aufgebaut werden. Alle internationalen Turniere für das erste Halbjahr sind aktuell ohnehin gestrichen. Die neuen Qualifikations-Daten werden frühestens im Juni durch den Weltverband AIBA bekannt gegeben.»
Bei den Frauen gilt Sandra Brügger einmal mehr als einzige Olympia-Hoffnung. Allerdings droht ihr nun wegen der einjährigen Verschiebung der Sommerspiele die Überschreitung der zulässigen Altersbeschränkung von 40 Jahren.
«Da bin ich im Moment überfragt. Es ist natürlich auch bei den Frauen so, dass die Jüngeren bezüglich Explosivität einfach Vorteile haben. Man verliert an Reaktion, Schnelligkeit und so weiter. Dies kann man nur teilweise mit Erfahrung wettmachen.»
SDA