Kolumne Die schamlose Gesellschaft

Von Marianne Siegenthaler

24.8.2020

Wie so viele andere Menschen ist für die Nachbarin der Kolumnistin Scham ein Fremdwort. (Symbolbild)
Wie so viele andere Menschen ist für die Nachbarin der Kolumnistin Scham ein Fremdwort. (Symbolbild)
Bild: Getty Images

Je länger, je mehr scheint der Kolumnistin, dass manchen Menschen jegliches Schamgefühl abgeht und sie gezwungen ist, am Privatleben wildfremder Leute teilzuhaben.

Gestern im Dorfladen. Kleiner Plausch zwischen zwei Kassiererinnen: «Chunnsch mit go schwümme über Mittag?»  «Nei, ich ha d’Mens und grausami Chrämpf.» «Ui, ich känn das. Und dänn au no Durchfall dezue ane.»

Muss ich das wirklich wissen? Ich packe meine Einkäufe aufs Band und versuche, mich mit den Kalorienangaben auf der Falafel-Packung abzulenken.

Aber Sie kennen das bestimmt: Denk nicht an einen blauen Elefanten, und vor deinem inneren Auge erscheint – genau: ein blauer Elefant.

Intimste Details

Kaum zu Hause darf ich wiederum ungewollt an einem Privatleben teilnehmen. Diesmal dasjenige einer Nachbarin. Sie hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis und hängt deshalb praktisch pausenlos an ihrem Handy. Lautstark und immer auf dem Balkon. Und sie nimmt kein Blatt vor den Mund.

Kein Detail aus ihrem (Liebes-)Leben ist ihr zu intim, um es nicht gut hörbar in die Umgebung zu posaunen. Ganz offensichtlich ist es ihr überhaupt nicht peinlich, sich vor aller Ohren über privateste Dinge auszulassen. Wie so viele andere Menschen ist für meine Nachbarin Scham ein Fremdwort. Verlegenheitsgefühle? Fehlanzeige.



Egal, ob Coiffeur, Zug, Tram, Social Media, Talkshow oder TV-Serie – bei immer mehr Menschen könnte man meinen, sie hätten gar kein Privatleben mehr, beziehungsweise es ist ihnen egal, wenn sie dieses mit möglichst vielen Wildfremden teilen.

Und: Seit mancherorts Maskenpflicht besteht, hat sich das Problem noch verschärft, denn die Leute reden noch lauter, um die dämpfende Wirkung der Maske wettzumachen.

Rücksichtslosigkeit als Programm

Dabei hat das Gefühl der Scham eine wichtige Funktion: Man betrachtet sich mit den Augen seiner Umgebung und überprüft so sein eigenes Verhalten – und passt es allenfalls an. Doch das ist vielen Menschen total egal.

Ein paar weitere Beispiele gefällig?

CEOs kassieren trotz ungenügender Leistung schamlos Boni in Millionenhöhe. Manche Politikerinnen und Politiker lügen das Stimmvolk hemmungslos an.

Und auch viele Touristinnen und Touristen benehmen sich total daneben. Zerstören alte Kulturgüter. Erscheinen halbnackt im Restaurant. Und halten all die oberpeinlichen Szenen auch noch mit dem Handy fest, um sie dann auf Facebook oder Instagram zu posten.

Der Talkshow-Gast lässt sich ungeniert über seine bizarren sexuellen Vorlieben aus. Die Liste lässt sich beliebig verlängern – die Folge ist immer dieselbe: Schamlosigkeit führt zu Rücksichtslosigkeit, weil man sich nicht mehr verantwortlich fühlt für sein Tun.

Dauernde Grenzüberschreitungen

Und damit überschreitet man nicht nur seine eigenen Grenzen, sondern auch diejenigen seines Umfelds. Mich jedenfalls ärgert es, wenn ein Bundesanwalt wegen zweifelhafter Geschäfte abtreten muss und dann auch noch mehrere Monate Ferien ausbezahlt bekommt.

Ich finde es eklig, wenn ich in einem Restaurant beim Essen von halbnackten Menschen umgeben bin. Und ich will auch nicht jedes Mal, wenn ich nach 22 Uhr den TV anwerfe, mit Sendungen konfrontiert werden, in denen es Männer sexuell reizvoll finden, sich an der Leine Gassi führen zu lassen oder Ähnliches.

Kurz: Ich plädiere für die Wiedereinführung einer Schamgrenze – denn Scham schützt uns vor uns selbst.

Zur Autorin: Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin und Buchautorin. Wenn sie grad mal nicht am Schreiben ist, verbringt sie ihre Zeit am liebsten im, am und auf dem Zürichsee.

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