Ukrainische Schauspielerin «Ich wundere mich, wie ruhig mein Vater bisher geblieben ist»

Von Bruno Bötschi

25.2.2022

«Das Gefühl der Bedrohung gibt es schon länger»: Tatjana Werik.
«Das Gefühl der Bedrohung gibt es schon länger»: Tatjana Werik.
Bild: Privat

Der Ukraine-Krieg macht Tatjana Werik sprachlos. Die Schauspielerin lebt seit 20 Jahren in der Schweiz. Hier spricht sie über die Angst um ihren Vater und erklärt, warum sie die Schuld nicht allein bei Russland sucht.

Von Bruno Bötschi

25.2.2022

Tatjana Werik, wie geht es Ihnen?

Mir fehlen die Worte.

Lassen Sie sich ruhig Zeit.

Die Situation ist gerade sehr anspruchsvoll. Mir ist, als spüre ich im Inneren einen Schmerz. Anders kann ich es nicht erklären. Ich bin ständig im Internet und telefoniere immer wieder mit meinen Verwandten und Freund*innen.

Sie sind in der Ukraine aufgewachsen und vor 20 Jahren in die Schweiz gezogen.

Meine Kindheit habe ich in der Region Saporischschja verbracht, im Südosten der Ukraine. Als ich heute Morgen mit meinem Papa telefonierte, sagte er mir, dass dort gekämpft wird und gewisse Gebiete bereits unter russischer Kontrolle sind.

Wo lebt Ihr Vater?

Zur Person: Tatjana Werik
Bild: zVg

Tatjana Werik ist Theater- und Filmschauspielerin aus Bern. Sie hat auf Bühnen in der Ukraine und in der Schweiz sowie in mehreren Fernseh- und Kurzfilmen Rollen gespielt.

Mein Papa wohnt seit einigen Jahren in Kiew. Während unseres heutigen Telefonats sagte er irgendwann plötzlich: «Oh, jetzt höre ich im Hintergrund Raketen.» Es ist total verrückt.

Hat Ihr Vater Angst?

Ich wundere mich, wie ruhig mein Vater und meine Freundinnen und Freunde in der Ukraine bisher geblieben sind. Bis jetzt spürte ich noch keine Panik – oder zumindest lassen sich meine Nächsten nichts davon anmerken, wenn ich mit ihnen telefoniere.

Waren Sie überrascht, als Sie am Donnerstag von der russischen Invasion gehört haben?

Das Gefühl der Bedrohung gibt es schon länger. Deshalb waren die Menschen in der Ukraine innerlich irgendwie auf die Invasion vorbereitet. Für mich persönlich war der Angriff trotzdem eine Überraschung. Ich bin enttäuscht darüber, dass die Vernunft nicht gesiegt hat.

2014 wurde die Krim durch Russland annektiert, später kam es zur verdeckten Invasion in Donezk und Luhansk. Jetzt scheint sich der Konflikt auf das ganze Land auszubreiten. Hätten Sie das für möglich gehalten?

Natürlich hat man immer wieder gehört, dass es zum Krieg kommen könnte. Als ich noch in der Ukraine lebte, waren die Beziehungen zwischen den beiden Ländern normal. Umso grösser war der Schock, als Russland in die Krim einmarschierte.

Haben Sie ukrainische Freunde, die in die Armee eingezogen wurden?

Ich habe Freunde, die im letzten Krieg dabei waren. Und ich weiss, dass sie bereit sind, auch im aktuellen Konflikt die ukrainische Armee zu unterstützen, sollten sie einberufen werden.

Die Ukraine ist ein souveränes Land in Europa, doch über sein Schicksal entscheidet gerade ein Club mächtiger Länder und Politiker*innen. Macht Sie das wütend?

Ich bin Künstlerin und weiss nicht im Detail, wie die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ländern funktioniert. Ich persönlich fände es einfach extrem wichtig, dass die Politiker*innen zusammen reden würden. Ohne beidseitigen Kompromiss wird dieser Konflikt nicht zu lösen sein.

Was fürchten Sie zurzeit am meisten?

Ich habe Angst davor, dass wenn der Westen den Druck auf Russland noch weiter erhöhen wird, der russische Präsident Putin seinerseits den Druck ebenfalls verstärkt und die kriegerischen Auseinandersetzungen sich weiter ausbreiten werden.

Sie meinen in andere Länder?

Ja, das glaube ich. Schaffen es die Politiker*innen in Ost und West nicht bald, den Konflikt im Dialog zu lösen, ist die Gefahr gross, dass der Krieg noch viel schlimmer werden wird. Nachdem Russland die Krim annektiert hatte, habe ich viel gelesen über die Geschichte unserer beider Länder und ich sprach mit Menschen auf beiden Seiten. Seither weiss ich, dass es bei diesem Konflikt um etwas Grösseres geht. Aus diesem Grund würde ich die Schuld für die heutige Krise auch nicht allein bei Russland suchen.

Sondern?

Die Konfliktsituation wurde auch dadurch verstärkt, dass die Nato immer näher an Russland herangerückt ist. Dabei wurde unter anderem das Versprechen gebrochen, sich nicht nach Osten auszudehnen.

Würden Sie Ihrer Familie und Freunden am liebsten raten, jetzt doch lieber die Ukraine zu verlassen?

Meinem Papa habe ich schon vor einiger Zeit geschrieben, dass er zu mir in die Schweiz kommen solle. Aber er will nicht.

Ging eine Ausreise jetzt überhaupt noch?

Nein. Der Flughafen in Kiew ist geschlossen. Und an der Grenze lassen sie aktuell keine Männer unter 60 Jahren mehr ausreisen.