Richtig streiten So eskaliert der Familienstreit an Weihnachten nicht

Von Gil Bieler

23.12.2022

«Zum hundertsten Mal, ‹Stirb langsam› ist KEIN Weihnachtsfilm!» – «Doch, ist er wohl!»
«Zum hundertsten Mal, ‹Stirb langsam› ist KEIN Weihnachtsfilm!» – «Doch, ist er wohl!»
Bild: Keystone

Von wegen stille Nacht: In vielen Familien gibt es lautstarken Krach, kaum sind alle im selben Raum versammelt. Experten verraten, wie der Tischfrieden wenigstens über die Festtage gewahrt bleibt. 

Von Gil Bieler

23.12.2022

Weihnachten bei Meiers. Der Tisch ist schön hergerichtet, der Festschmaus steht schon dampfend bereit. Draussen rieselt der Schnee – und drinnen fliegen die Fetzen.

Streit gehört in vielen Familien dazu, wenn Eltern, Kinder, Grosseltern, Tanten und Onkel zusammensitzen. Das kann schnell einmal den Abend ruinieren. Doch Streit ist kein Naturgesetz: Das Schlimmste lässt sich vermeiden oder wenigstens eindämmen – wenn man weiss, wie.

Tipp 1: Ich-Botschaften verwenden

Einer, der sich damit auskennt, ist Markus Pfäffli. Als Coach berät er Paare, Familien und Führungskräfte in Konfliktmanagement. Der grösste Fehler in Streitsituationen? Da muss der Fachmann nicht lange überleben: Wenn jemand Du-Botschaften verwendet anstatt Ich-Botschaften. «Dann spreche ich vom anderen anstatt von mir selbst.»

Zum Beispiel Protestaktionen fürs Klima. Onkel Meier sieht diese skeptischer als seine Nichte und sagt ihr: «Du bist doch eine Träumerin, du kommst schon noch auf die Welt.»

Besser wäre es laut Pfäffli, der Onkel würde sagen: «Ich verstehe nicht, was diese Klimaproteste bringen sollen.»

Ein vermeintlich einfacher Kniff, der aber einen grossen Unterschied macht: «Jeder hat seine eigene Realität. Da ist es nicht hilfreich, laut darüber nachzudenken, was im anderen vorgehen und wofür dieser stehen könnte», erklärt Pfäffli.

Ein weiteres Problem der Du-Botschaften: «Das Gegenüber fühlt sich überrollt und muss sich rechtfertigen.» Mit Ich-Botschaften dagegen biete man dem Gesprächspartner erst einmal die Möglichkeit, auf das Gesagte einzugehen – oder eben nicht.

Tipp 2: Notbremse ziehen

Am Tisch bei Meiers fehlt die Selbstbeherrschung. Onkel und Nichte schaukeln sich in Rekordzeit gegenseitig hoch. Sie werden lauter und lauter, der Ton aggressiver und aggressiver. Was kann man dann noch tun?

«Das Gespräch stoppen», rät der Fachmann. Dazu seien alle Anwesenden angehalten. «Man kann das bereits im Vorfeld vereinbaren: Wenn ein Streit eskaliert, dann unterbrechen wir.» So werde bereits vorab ein Rahmen gesetzt und im Idealfall sei niemand brüskiert, wenn die Diskussion dann wirklich gestoppt werde.

Wichtig sei aber, einen Zeitpunkt zu vereinbaren, an dem das Gespräch fortgesetzt werde. «Das ist auch ein Zeichen des Respekts. Auf diese Weise fühlt sich mein Gegenüber ernst genommen und es ist klar, dass lediglich der Zeitpunkt unpassend ist.»

Tipp 3: Tabus sind legititm

Gebe es in einer Tischrunde bekannte Reizthemen – etwa ein alter Erbstreit – dann könne man diese zum Tabuthema erklären. Solche Fragen klärt man besser im Vorfeld anstatt in der Hitze des Wortgefechts. «Man muss das Eisen schmieden, solange es noch kalt ist», sagt Pfäffli.

Gleich sieht das Guy Bodenmann, Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich und auf Paar- und Familientherapie spezialisiert. «Ja, es gibt Momente, da sollte man Konfliktthemen zurückstellen und sie bei einer späteren Gelegenheit wieder aufgreifen», pflichtet Bodenmann bei. Die Festtage stellten wichtige Familienrituale dar, die sowohl ein Paar wie auch die Familie ungetrübt erleben können sollten.

«Auf gar keinen Fall mit den Eltern schauen!»

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Tipp 4: Abstand suchen, bevor jemand explodiert

Bei Meiers nützen aber alle guten Vorsätze nichts. Zwischen Onkel und Nichte fliegen jetzt die Fetzen. So richtig. Die Stimmung am Tisch wird unangenehm.

In dieser Situation dürfe man die Streithähne durchaus dazu auffordern, ihren Zoff in einem anderen Raum fortzusetzen. «Ich kann darauf hinweisen, dass ich nicht dafür gekommen sei, und die anderen Gäste sich gern anderen Themen widmen würden», sagt Pfäffli.

Und was, wenn man selbst von seinem Vis-à-vis unablässig attackiert wird? Hier rät der Experte zu Distanz: «Es spricht nichts dagegen, den Raum kurz zu verlassen, bis sich der andere beruhigt hat und wieder empfänglich für meine Worte ist.» Auch eine Time-out-Handgeste könne für eine Deeskalation sorgen.

Muss denn alles super harmonisch sein?

Die Streithähne bei Meiers haben doch noch die Kurve gekriegt. Onkel und Nichte teilen sich sogar das Dessert. Ein Weihnachtswunder. «Wir sind halt schon eine streitlustige Sippe», sagt die Tante kopfschüttelnd. Und sie fragt sich: Geht es bei anderen Familien denn zu wie in einem Disney-Film?

Natürlich nicht. Meinungsverschiedenheiten dürfen sein, sagt Pfäffli. «Man kann sich auch in Rage reden, solange es respektvoll bleibt.» Werde jemand aber herabsetzend, ausfällig oder verletzend, dann kippe eine Diskussion in einen vergifteten Streit.

Dem Tischfrieden zuliebe kannst du Differenzen einen Abend lang schon einmal unter den Teppich kehren. Auf längere Sicht – etwa in der Partnerschaft – sei es aber besser, Konflikte aktiv anzusprechen, sagt Professor Guy Bodenmann.

«Wenn man dies frühzeitig tut, erhöht dies die Chance, dass sich nicht bereits erhebliche negative Energie angestaut hat, wodurch es leichter fällt, das Gespräch konstruktiver zu gestalten.»

Je länger man damit zuwarte, desto mehr nähmen Frustration, Enttäuschung und Leidensdruck zu und desto schwieriger werde es, seine negativen Emotionen zu regulieren.

Mit unschönen Folgen: «Die Tendenz zur Pauschalisierung nimmt zu, man beginnt, am Charakter des anderen zu zweifeln und sich als Opfer zu sehen. In dieser Haltung fällt es schwer, beide Sichtweisen hören zu wollen und sich fair und konstruktiv zu begegnen», so Bodenmann.

Der Forscher hat gemeinsam mit Kolleg*innen der Universität Zürich in einer Langzeitstudie untersucht, wie Paare mit Stress umgehen und ihre Streitkultur analysiert. Eine Erkenntnis: Auch glückliche Paare geraten sich in die Haare, gehen damit aber anders um als unglückliche.

Eine typische Schweizer Art des Streitens – etwa die berühmte Faust-im-Sack – gibt es übrigens nicht. Das sei von Paar zu Paar verschieden. Und: «Die Schweiz hat mit ihrem hohen Anteil an binationalen Partnerschaften keinen einheitlichen kulturellen Hintergrund mehr, welcher sich in kollektiven Streitmustern widerspiegeln würde.»

Ah ja, fällt jetzt der Nichte Meier ein: Eigentlich wollte sie ja noch von ihrem neuen Schwarm erzählen, den sie beim Klimaprotest kennengelernt hat. Vielleicht nach der Glace.