Ausreisser oder bedrohlicher Vorbote? Das sagt die Forschung zum Hitzejahr 2023

AP/toko

15.1.2024 - 00:00

Viele Regionen der Welt wurden im Rekordjahr 2023 von verheerenden Dürren heimgesucht.
Viele Regionen der Welt wurden im Rekordjahr 2023 von verheerenden Dürren heimgesucht.
Armin Weigel/dpa

Im vergangenen Jahr war die Erde fast 1,5 Grad wärmer als vor der Industrialisierung. Wissenschaftler erklären, warum sie alarmiert sind.

15.1.2024 - 00:00

Die jüngsten wissenschaftlichen Berechnungen zur Erderwärmung im vergangenen Jahr klingen schon beunruhigend genug. Doch Forscherinnen und Forscher befürchten, dass sich hinter den Zahlen eine noch grössere Krise verbergen könnte.

Die Nachrichtenagentur AP befragte mehr als drei Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Bedeutung der Rekordtemperaturen von 2023. Die meisten von ihnen befürchten nach eigenen Angaben eine weitere Beschleunigung des Klimawandels, der bereits fast eine Erwärmung um 1,5 Grad im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten bewirkt hat.

«Dramatische Botschaft von Mutter Natur»

«Die Hitze im vergangenen Kalenderjahr war eine dramatische Botschaft von Mutter Natur», sagt die Klimaforscherin Katharine Jacobs von der University of Arizona. Die Erwärmung der Luft und der Meere erhöht nach Angaben von Forschenden die Wahrscheinlichkeit und Intensität von tödlichen und teuren Hitzewellen, Überschwemmungen, Dürren, Stürmen und Waldbränden. Das vergangene Jahr war hier ein Extremfall.

Die durchschnittlichen globalen Temperaturen überstiegen den bisherigen Rekord um etwas mehr als 0,15 Grad Celsius – laut führenden Forschungseinrichtungen ein grosser Sprung. Wissenschaftler verweisen auf drastische Auffälligkeiten 2023. Sie rätseln, ob als ein Ausreisser der vom Menschen verursachte Klimawandel und das natürliche Wetterphänomen El Niño verstärkt wurden oder ob «etwas Systematischeres im Gange ist», wie NASA-Klimaforscher Gavin Schmidt es formuliert. Das könnte unter anderem eine viel debattierte Beschleunigung der Erwärmung sein.

Eine Teilantwort könnte erst im späten Frühjahr oder frühen Sommer möglich sein. Zu diesem Zeitpunkt wird ein Nachlassen eines starken El Niños erwartet, der zyklischen Erwärmung in pazifischen Gewässern, die Wettermuster weltweit beeinflusst. Wenn die Meerestemperaturen, auch in grosser Tiefe, wie 2023 bis in den Sommer hinein weiter Rekordwerte erreichen, wäre das ein unheilvolles Omen.

Fast alle Forschenden, die die Fragen beantworteten, machten vor allem Treibhausgase aus der Verbrennung fossiler Energieträger für die Rekordtemperaturen verantwortlich. Als zweitgrössten Faktor weit vor allen weiteren nannten sie El Niño. 2023 sei «ein sehr seltsames Jahr» gewesen, sagt Schmidt von der US-Raumfahrbehörde NASA: «Je tiefer man gräbt, desto weniger klar wirkt es.»

Ein Punkt ist der Zeitpunkt, zu dem die Erwärmung begann, wie Schmidt und Samantha Burgess vom EU-Klimadienst Copernicus erklären. Copernicus hatte vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass die Durchschnittstemperatur im vergangenen Jahr 1,48 Grad Celsius über den vorindustriellen Niveau lag. Nach Angaben der beiden Forschenden erreichen die Temperaturen typischerweise im späten Winter und im Frühjahr die höchsten Werte über der Norm. 2023 jedoch setzten sie sich ab Juni von den bisherigen Rekordwerten ab. Und dabei blieb es monatelang. Ähnlich verhielten sich die Temperaturen in der Tiefsee, wie Burgess sagt.

Hinweise auf Beschleunigung

Der ehemalige NASA-Klimawissenschaftler James Hansen, der als Pionier seines Fachs gilt, stellte im vergangenen Jahr die Theorie auf, dass sich die Erwärmung beschleunige. Viele von kontaktierte Forschende schlossen sich dieser Annahme an. Andere betonten, dass die bisherigen Belege lediglich auf einen stetigen und bereits seit langem vorgesagten Anstieg hinwiesen.

«Es gibt einige Hinweise, dass das Tempo der Erwärmung in den vergangenen zehn Jahren leicht höher ist als in der Dekade zuvor – was der mathematischen Definition von Beschleunigung entspricht», sagt Klimaforscher Daniel Swain von der University of California in Los Angeles. Das stehe jedoch auch weitgehend in Einklang mit Prognosen, wonach sich die Erwärmung zu einem bestimmten Punkt beschleunigen werde, vor allem wenn die Feinstaubbelastung in der Luft abnimmt.

Die US-Wetterbehörde NOAA berechnete, dass die Erde 2023 im Durchschnitt 15,08 Grad Celsius warm war. Dieser Wert liegt um 0,15 Grad über dem vorherigen Rekord von 2016 und 1,35 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Die NASA und das Meteorologische Büro Grossbritanniens gaben die Erwärmung seit Mitte des 19. Jahrhunderts etwas höher an, mit 1,39 Grad beziehungsweise 1,46 Grad.

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«Technisch möglich, aber politisch unmöglich»

Die Aufzeichnungen reichen zurück bis zum Jahr 1850. Die Weltorganisation für Meteorologie der Vereinten Nationen kombinierte die am Freitag bekanntgegebenen Messungen mit kürzlich veröffentlichten japanischen und europäischen Berechnungen und kam für 2023 auf einen Temperaturanstieg um 1,45 Grad im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung.

Viele der Klimaforscherinnen und -forscher sehen wenig Hoffnung, die Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen zu können. «Es ist technisch möglich, aber politisch unmöglich», erklärt die Expertin Jennifer Francis vom Woodwell Climate Research Center. Auch Katharine Hayhoe, Chefforscherin bei The Nature Conservancy, sagt, es mangele nicht an wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Lösungen, sondern an politischem Willen. Pessimistisch äussert sich auch Klimaexpertin Natalie Mahowald von der Cornell University: «Das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was wir in Zukunft erwarten können, vor allem wenn es uns nicht gelingt, Kohlendioxid schnell genug zu reduzieren.»

AP/toko