Ukraine feiert Unabhängigkeit Kiew muss morgen mit allem rechnen – Moskau aber auch

Von Philipp Dahm

23.8.2022

An der Front in der Ukraine: Kein Ende des Krieges in Sicht

An der Front in der Ukraine: Kein Ende des Krieges in Sicht

Vor sechs Monaten begann Russland seinen Feldzug in der Ukraine. Fast alle Experten rechneten damals mit einer schnellen Eroberung des Nachbarlandes. Inzwischen stellen sich die Soldaten an der Front auf einen langen Konflikt ein.

22.08.2022

Der 24. August ist für die Ukraine ein besonderer Tag: Der Krieg wird ein halbes Jahr alt – und das Land feiert den 31. Tag der Unabhängigkeit. Wird Moskau an diesem Datum provozieren? Oder greift gar die Ukraine an?

Von Philipp Dahm

23.8.2022

Einerseits ist der 24. August für die Ukraine ein Feiertag: 31 Jahre zuvor hat sich das Land von der Sowjetunion losgesagt. Doch auf Festivitäten verzichten die Städte in diesem Jahr: Kiew warnt vor potenziell schweren Angriffen Russlands am Unabhängigkeitstag.

Denn andererseits markiert der 24. August auch das Datum, an dem der blutige Konflikt sechs Monate alt wird. «Wir müssen uns alle bewusst sein, dass Russland diese Woche versuchen könnte, etwas besonders Hässliches, etwas besonders Böses zu tun», warnt Wolodymyr Selenskyj das Volk.

In Kiew etwa sind bis zum 25. August grössere öffentliche Ansammlungen verboten: Die Behörden befürchten Bomben- oder Raketenangriffe. Nach ukrainischen Angaben hat das russische Militär entsprechendes Material zu Basen in Belarus gebracht. Denkbar ist auch, dass am Unabhängigkeitstag die Schauprozesse gegen Kämpfer des Asow-Regiments beginnen, die im von Separatisten besetzten Gebiet von Donezk festgehalten werden.

Angriffe auf zivile Ziele erwartet

Von militärischem Wert wären derlei Aktionen zwar nicht. Aber Selenskyj weiss: «Eines der Hauptziele des Feindes ist, uns zu erniedrigen, unsere Ressourcen und unsere Helden zu entwerten, Verzweiflung und Angst zu verbreiten und Konflikte anzuheizen.» Es sei deshalb umso wichtiger, keine Schwäche zu zeigen, so der ukrainische Präsident.

Tatsächlich haben die ukrainischen Streitkräfte Stärke und Widerstandskraft an den Tag gelegt: Wer hätte beim Kriegsausbruch am 24. Februar gedacht, dass die ukrainische Armee der Offensive sechs Monate – und länger – standhalten kann? Im Westen waren es sicherlich wenige – und auch im Osten waren die Erwartungen ganz andere.

Immerhin hat Moskau seinen Truppen 45'000 Leichensäcke und mobile Krematorien mit auf den Weg gegeben, die angeblich nach einem schnellen Sieg über die Ukraine bei der Säuberung der eroberten Gebiete zum Einsatz kommen sollten. Gebraucht werden sie nun in den eigenen Reihen: Nach Angaben der Verteidiger sind über 45'000 russische Soldat*innen gefallen.

Westliche Waffen gegen die Auslöschung

Kein Wunder, dass der Ton in Russland immer rauer wird. «Keine Gnade für das ukrainische Volk», twitterte Michail Uljanow, der russische Vertreter bei den Internationalen Organisationen in Wien. Und nach dem Tod Darja Duginas durch eine Autobombe in Moskau fordert der russische Sender Tsargrad offen die Auslöschung der Kriegsgegner.

Rhetorik ist das eine, die Realität auf dem Feld das andere. Dort sind die ukrainischen Streitkräfte weit davon entfernt, von der Landkarte getilgt zu werden – auch dank der massiven Waffenlieferungen aus dem Westen. An vorderster Front dabei: die USA. Washington übertrifft die militärische wie auch die ökonomische und finanzielle Hilfe anderer Länder bei Weitem.

In den letzten zwei Jahren hat Uncle Sam Kiew Militärhilfe im Wert von 10,6 Milliarden Dollar zukommen lassen – eine Auflistung der gelieferten Geräte findest du hier. Deutschland wird der Ukraine Munition für die Panzerhaubitze 2000 liefern, die noch nicht einmal die Bundeswehr ausprobiert hat: Es handelt sich um 255 Vulcano-Granaten, die dank GPS über 70 Kilometer selbst ein bewegtes Ziel mit einem Meter Präzision treffen können, berichtet «Soldat und Technik».

«Wahrscheinlich der letzte Feldzug dieser Art»

Zuletzt hat die Türkei der Ukraine 50 gepanzerte Fahrzeug vom Typ Kirpi MRAP geliefert, und auch im neuesten US-Paket sind 40 ähnliche Vehikel vom Typ MaxxPro MRAP enthalten. Hinzukommen Panzerabwehr-Raketen mit einer Reichweite von unter fünf Kilometer, Munition für rückstossfreie Carl-Gustav-Geschütze, die wenige hundert Meter weit schiessen und kleinere Artilleriesysteme, die 105-Millimeter-Munition verschiessen.

Die Ukraine bereitet sich damit insgesamt offenbar darauf vor, mehr im Nahkampf zu agieren als bisher. Tatsächlich glauben einige Experten, dass massive Artillerie-Duelle wie im Donbass der Vergangenheit angehören. «Der aktuelle Konflikt war wahrscheinlich der letzte Feldzug dieser Art, dessen Verlauf von der Artillerie der Ära der Industriearmeen bestimmt wurde», schreibt am 20. August der russische Militär-Blogger Atomic Cherry auf einem Telegram-Kanal.

In der «ersten Phase» des Krieges habe die russische Armee ihre Fortschritte mit «50'000 bis 60'000 Granaten pro Tag» sichern können, doch nun stosse Moskau an seine Grenzen. Das liege zum einen am Verschleiss und zum anderen daran, dass «beispielsweise 122-Millimeter-Granaten in der Russischen Föderation seit 2013 nicht mehr produziert» würden.

Wo bleibt die Cherson-Offensive?

Weiter schreibt Atomic Cherry: «Die Artillerie Russlands und der Ukraine kann nicht mehr das Leistungsniveau von vor sechs Monaten erreichen.» Deshalb steige in Sachen Kriegsführung nun wieder die Bedeutung der Luftwaffe und von «sorgfältig geplanten, punktgenauen Operationen mit Hightech-Waffen, die darauf abzielen, die Fähigkeiten des Feindes strategisch einzuschränken».

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt die ukrainische Armee im Süden des Landes. Die Antoniwkabrücke in Cherson, die bereits zuvor von Artilleriegeschossen durchlöchert worden ist, wird am 22. August offenbar durch Himars-Raketen zerstört. Kiew will Moskaus Truppen in der besetzten Stadt einschliessen.

Aktuelle Lage-Karte der ukrainischen Südflanke.
Aktuelle Lage-Karte der ukrainischen Südflanke.
Institute for the Study of War

Doch gleichzeitig muss man sich fragen: Wo bleibt denn nun die ukrainische Offensive auf die Grossstadt, die schon seit Wochen angekündigt wird? Russland stärkt dort trotz der Nachschub-Probleme seine Kräfte und zieht Truppen aus dem Donbass ab: Wird Kiew womöglich doch woanders erstmals wirklich in die Gegenoffensive gehen – vielleicht ja sogar am Tag der Unabhängigkeit?

Amerikaner sollen Ukraine dringend verlassen

Fakt ist: Die Zeit drängt. Ab Oktober wird der Winter die Schlachtfelder in der Ukraine langsam einfrieren. Gleichzeitig steht Selenskyj vor der Herausforderung, den Westen weiter bei Laune zu halten, denn ohne dessen Hilfe ist der Krieg nicht zu gewinnen. «Vielleicht will [er] deswegen den Krieg vor Weihnachten beenden, weil das wahre Problem ist, den Westen auf lange Sicht dazu zu bringen, seine Versprechen zu halten», sagt Keir Giles von der Londoner Denkfabrik Chatham House bei CNN.

Ukrainische Soldaten am 15. August bei der Ausbildung in Südengland: Kiew hat mobilisiert und kann nun Schritt für Schritt frische Kräfte nachführen. Ein Vorteil, denn Russland hat Probleme, neue Soldaten zu rekrutieren. Nach dem Winter wäre dieser temporäre Effekt aber wieder verpufft.
Ukrainische Soldaten am 15. August bei der Ausbildung in Südengland: Kiew hat mobilisiert und kann nun Schritt für Schritt frische Kräfte nachführen. Ein Vorteil, denn Russland hat Probleme, neue Soldaten zu rekrutieren. Nach dem Winter wäre dieser temporäre Effekt aber wieder verpufft.
Keystone

Auch Wladimir Putin steht unter Druck. Lieber heute als morgen möchte der Kreml-Herrscher Pseudo-Wahlen in Donezk, Luhansk und Saporischschja durchführen lassen, um die Gebiete anzuschliessen. Es häufen sich Berichte, die eine wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung ausmachen, was nicht zuletzt an wirtschaftlichen Härten liegen soll, die immer mehr zu spüren seien.

Putins Handlanger: Russische Soldaten feuern am 22. Juli 2022 eine Mörsergranate aus einem Weizenfeld an einem nicht genannten Ort in der Ukraine ab.
Putins Handlanger: Russische Soldaten feuern am 22. Juli 2022 eine Mörsergranate aus einem Weizenfeld an einem nicht genannten Ort in der Ukraine ab.
KEYSTONE

Insofern wird sich Moskau die Gelegenheit wohl nicht nehmen lassen, am symbolträchtigen Unabhängigkeitstag zuzuschlagen – und selbst wenn es bei einer Barrage von Bomben und Raketen bleibt, die ungenau sind und erneut zivile Opfer fordern werden. Die USA rufen ihre Bürger*innen dringend auf, die Ukraine wegen der erwarteten Angriffe zu verlassen.

Lang, aber interessant: Der gebürtige Schwede Semin Yildiz spricht über seinen Einsatz in der Ukraine.