Strommangel ohne Grenzen Wenn Europa Engpässe hat, bekommt die Schweiz Probleme

Von Andreas Fischer

21.7.2022

Netzabschaltung von vier bis acht Stunden als Ultima Ratio

Netzabschaltung von vier bis acht Stunden als Ultima Ratio

Das Risiko einer Strommangellage sei real und gross. Deshalb müssten schon heute alle einen Beitrag leisten und kurzfristig weniger Strom verbrauchen. Das sagte Michael Frank, Direktors des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE).

20.07.2022

Der Bund will mit Stufenplänen einer Energiekrise im Winter vorbeugen. Spielen allerdings die EU-Länder nicht mit, könnte es knapp werden. Denn nicht nur Frankreichs Atomkraftwerke sind echte Sorgenkinder.

Von Andreas Fischer

Gehen Europa Öl und Gas aus, dann hat auch die Schweiz ein Problem. «Die Schweiz hat im Endenergieverbrauch 60 Prozent Öl oder Gas», rechnet Umweltministerin Simonetta Sommaruga in einem SRF-Interview vor. Die Schweiz sei voll vom Ausland abhängig: «Und dafür bezahlen wir einen hohen Preis.» 

Noch ist die Versorgung mit Strom und Gas zwar gesichert, beteuerten Fachexperten des Bundes in einer Medienkonferenz am Donnerstag. Dennoch bereite man sich für eine Energiekrise vor, wie sie die Schweiz seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. «Wir erleben zurzeit die erste weltweite Energiekrise, mit Europa im Epizentrum», sagte der Direktor des Bundesamtes für Energie, Benoît Revaz.

Europa und die Schweiz müssen zusammenhalten

«Was die Gasversorgung angeht, ist Europa eine Schicksalsgemeinschaft», erklärte Michael Schmid, Leiter Public Affairs beim Verband der Schweizerischen Gasindustrie, kürzlich gegenüber blue News. «Sollte Deutschland ein Versorgungsproblem bekommen, dann hat ganz Westeuropa ein Problem, auch die Schweiz.»

Um dieses Problem einzudämmen, ist Simonetta Sommaruga derzeit auf Reisen durch Europa: Die Schweiz strebt Solidaritätsabkommen mit Deutschland, Italien und Frankreich an, um im Ernstfall die Gasversorgung geschützter Kunden – Privathaushalte, Spitäler und Heime – zu sichern. In der Schweiz werden etwa 300’000 Wohnungen mit Gas geheizt.

Brüssel will Staaten zum Gas-Sparen zwingen

In der EU stellt man sich derweil auf den schlimmsten Fall ein. «Es ist ein wahrscheinliches Szenario, dass es eine vollständige Abschaltung von russischem Gas gibt», sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Angesichts eines drohenden Gasnotstands will Brüssel sogar verbindliche Einsparziele ausgegeben. Das geht aus einem Entwurf für einen Notfallplan der EU-Kommission hervor. Konkret soll es demnach um den Fall gehen, in dem freiwillige Massnahmen nicht mehr ausreichen, um in allen EU-Staaten eine Versorgung von geschützten Kunden sicherzustellen.

Doch nicht nur beim Gas ist die Schweiz von Europa abhängig, auch die Stromversorgung funktioniert ohne die Nachbarländer nicht. Die Märkte für Wärme und Elektrizität hängen eng zusammen. Ein Blackout mitten im Winter – das wäre wohl eine der potenziell gefährlichsten Folgen, die sich indirekt aus Russlands Krieg gegen die Ukraine ergeben könnten.

Putins Gaserpressung ist allerdings nur eine der Ursachen für potenzielle Energiemangellagen im kommenden Winter. Eine andere ist der Klimawandel. So können aufgrund der Trockenheit die Schweizer Stauseen derzeit nicht ausreichend gefüllt werden, um eine ausreichende Stromreserve für den Winter vorzuhalten.

Zudem sei es generell der Fall, «dass wir im Winter mehr [Strom] importieren, als wir exportieren», erklärte Marianne Zünd, Leiterin Medien und Politik beim Bundesamt für Energie, in einem Interview mit blue News. «Es gibt einen ständigen Austausch mit unseren Nachbarländern.»

Massive AKW-Probleme in Frankreich

Die Schweiz muss im Winter also Strom einkaufen. Wo aber soll er herkommen? Für die Stromversorgung im Winter gibt es einige Risiken, die die Schweiz sozusagen importiert: die massiven Probleme Frankreichs mit seinen Atomkraftwerken, mögliche Wetterextreme, die Versorgungslage der Gaskraftwerke und das Verhalten der Konsumenten.

Einer der grössten Risikofaktoren ist ausgerechnet das Nachbarland Frankreich. Dort steht ein grosser Teil der Kernkraftwerke nach Entdeckung kleiner Risse im Notkühlsystem oder wegen Wartungsarbeiten gerade still. Gelingt es nicht, genügend dieser Atomkraftwerke rechtzeitig wieder ans Netz zu bringen, könnte dies aufgrund der europäischen Verflechtung zur Herausforderung für die Netze werden, warnen Experten. Besonders kritisch würde ein kalter Winter werden, weil in Frankreich viel mit Strom geheizt wird.

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Stabile Netze sind entscheidend

Zweites Risiko: Wetterkapriolen. Bedrohlich wäre vor allem eine «Dunkelflaute» – also mehrere Tage mit wenig Wind- und zugleich kaum Solarstrom. Passiere das in mehreren Ländern gleichzeitig, kann es bedenklich werden. Auch weil das Stromnetz ständig auf einer bestimmten Frequenz laufen muss, wie Marianne Zünd erklärt. «Steigt oder sinkt diese, kippt es irgendwann und das Netz läuft nicht mehr stabil. Die zulässige Frequenzbandbreite ist sehr schmal und muss zu jeder Sekunde eingehalten werden.»

Normalerweise springen in solchen Situationen bei den europäischen Nachbarn Gaskraftwerke ein (die Schweiz hat keine eigenen). Sie machen zwar nur einen kleinen Teil der Kapazitäten aus. Doch bei Lastspitzen können sie entscheidend sein, um die Netzstabilität zu sichern. Weil vorhandenes Gas im Winter aber zum Heizen reserviert wird, können Gaskraftwerke zum Beispiel in Deutschland nicht mit Brennstoff versorgt werden.

Kleine Elektroheizgeräte, grosses Risiko

Auch das schwer vorherzusagende Verhalten der Konsumenten, ist ein Risiko: In Deutschland etwa hat in den vergangenen Wochen die Nachfrage nach elektrischen Heizgeräten – vom Heizlüfter bis zur Konvektorheizung – deutlich zugenommen. Würde wirklich in grossem Umfang damit geheizt, könnte das die Stromnetze in die Knie zwingen.

«Das ist ein Szenario, das man fast um jeden Preis verhindern muss.» Denn es würde die Möglichkeiten des Netzes sowohl bei der Erzeugung als auch beim Transport überfordern, sagte Christoph Maurer vom auf Energie spezialisierten Berater Consentec der Nachrichtenagentur dpa.

Für Simonetta Sommaruga ist derweil klar, dass es gilt, gemeinsam mit allen Staaten Energiekrise und gleichzeitig die Klimakrise zu bewältigen: «Denn es gibt einen Zusammenhang.» Der Ausbau der einheimischen erneuerbaren Energien schaffe «Unabhängigkeit, Versorgungssicherheit und dient gleichzeitig dem Klima».

Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Keystone-SDA.

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