EnergiekriseWas, wenn Deutschland der Schweiz den Gashahn zudreht?
Von Gil Bieler
3.7.2022
Parmelin ruft Industrie zum Gassparen auf
Wirtschaftsminister Guy Parmelin hat die Industrie zum Gassparen aufgerufen. Wer über eine Zweistoffanlage verfüge, solle schauen, dass diese einsatzbereit ist, so Parmelin. Auch Liegenschaftsverwalter sieht er in der Pflicht.
29.06.2022
Deutschland bangt um seine Erdgas-Reserven und erwägt, die Lieferungen an andere Länder einzustellen. Für die Schweiz hätte das bedeutende Folgen – die Gasbranche hofft auf das Solidaritätsabkommen.
Von Gil Bieler
03.07.2022, 18:28
20.07.2022, 15:34
Gil Bieler
«Was die Gasversorgung angeht, ist Europa eine Schicksalsgemeinschaft.» Eine Schlüsselrolle kommt dabei Deutschland zu: «Sollte Deutschland ein Versorgungsproblem bekommen, dann hat ganz Westeuropa ein Problem, auch die Schweiz», sagt Michael Schmid, Leiter Public Affairs beim Verband der Schweizerischen Gasindustrie, zu blue News.
Es erstaunt daher nicht, blickt die Schweiz mit Besorgnis nach Deutschland. An einer gemeinsamen Medienkonferenz wählten die Bundesratsmitglieder Simonetta Sommaruga und Guy Parmelin am Mittwoch deutliche Worte: Im Winter droht der Schweiz ein Mangel beim Gas und Strom, gegen die es Vorkehrungen braucht. «Jetzt geht es ums Ganze», sagte die Energieministerin dramatisch.
Die Schweiz steht am Ende einer prekären Lieferkette: Russland hat die Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 um rund 60 Prozent gesenkt, weshalb nun auch Deutschland einen Engpass befürchtet. Sollte die Situation so bleiben, brauche es zusätzliche Schritte, um die deutschen Speicher bis im November wie geplant zu 90 Prozent aufzufüllen.
Davon betroffen sei auch «die Weitergabe von Gas in andere europäische Länder wie zum Beispiel Frankreich, Österreich und Tschechien betroffen», hält die Bundesnetzagentur in ihrem Bericht vom Freitag fest.
Das allermeiste Gas kommt aus Deutschland
Die Schweiz wird in der Aufzählung nicht genannt. Doch drei Viertel des Schweizer Gases kommen aus Deutschland, sagte Sommaruga. Um sich für den Krisenfall abzusichern, arbeitet der Bundesrat daher an einem Solidaritätsabkommen mit Berlin. Man versuche damit, die Gasflüsse auch im Krisenfall abzusichern, «aber eine Garantie gibt es nicht», hielt Sommaruga fest.
Sie erinnerte an den vieldiskutierten Vorfall während der Corona-Pandemie, als Deutschland für die Schweiz bestimmte Schutzmasken zurückgehalten hatte.
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Aus dem Mund der Energieministerin klingt das wenig zuversichtlich, oder? «Das ist eine realistische Aussage», sagt Michael Schmid vom Gasverband. Zwar habe die Schweiz zwei Massnahmen angeordnet, um sich für die Knappheit zu rüsten: So hat der Bundesrat die Gasbranche im Mai dazu verpflichtet, Reserven in Gasspeichern in den Nachbarländern einzurichten. Zudem muss sie sich Kaufoptionen für zusätzliche Lieferungen von nicht-russischem Gas sichern.
«Von der Energiemenge her sorgen wir also vor, sollte Erdgas aus Russland ausfallen. Ob diese Energie dann aber auch effektiv in die Schweiz transportiert wird, ist eine andere Frage. Es besteht ein Risiko, dass Länder wie Deutschland oder Italien das Gas zurückhalten, weil sie selber zu wenig haben», sagt Schmid.
Hier hofft der Branchenvertreter auf das Solidaritätsabkommen mit Berlin. Mit diesem lasse sich zumindest erwirken, dass die sogenannten geschützten Kunden – Privathaushalte, Spitäler und Heime – das benötigte Gas bekommen.
Ist mehr Gas aus Italien die Lösung?
Sollte auch das Solidaritätsabkommen nicht wie erhofft greifen, kann das Bundesamt für Landesversorgung Schritte zur Einsparung von Gas anordnen. Wie diese Kontingentierungsschritte genau aussehen sollen, darüber will der Bundesrat im August informieren. Bereits am Mittwoch rief Wirtschaftsminister Parmelin die Unternehmen dazu auf, Gas einzusparen.
Könnte die Schweiz denn nicht einfach mehr Gas aus Italien beziehen, wenn Deutschland als Lieferant ausfällt? Von der Netzkapazität her wäre das möglich, bejaht Schmid. Aber diese Mengen an Gas nach Italien zu bekommen, sei eine immense Herausforderung. Das geschehe auch in Form von verflüssigtem Gas, sogenanntem LNG. «Doch die Kapazitäten der LNG-Terminals in den italienischen Häfen sind begrenzt.»
Will heissen: Italien könnte einen kompletten Ausfall Deutschlands nur teilweise kompensieren.
Die Ausgangslage aber bleibt: «Die Gas- und Energieversorgung ist grenzüberschreitend organisiert und hängt extrem stark zusammen», sagt Michael Schmid. «Es gibt fast keine Möglichkeiten, sich gegen ein Extremszenario so abzusichern, damit die Schweiz problemlos davonkommt, wenn unsere Nachbarn mit einer Knappheit zu kämpfen haben.» Das bedeute umgekehrt aber auch, dass die Schweizer Nachbarländer ein Interesse daran hätten, den Gastransit mittels Abkommen und Verträgen zu regeln und abzusichern.
Axpo-Experte: Gasspeicher haben «sehr gesundes Niveau»
Zuversichtlich ist auch Domenico De Luca, Handelschef des Energiekonzerns Axpo: Derzeit komme aber genug Flüssiggas aus dem Rest der Welt nach Europa, sagte er der Nachrichtenagentur AWP. Für Europa sei die Lage günstig, weil in China wegen der rigorosen Corona-Politik mit Lockdowns die Nachfrage nach Kohle und Gas gesunken sei. «Das hat Europa ermöglicht, seine Gasspeicher auf ein sehr gesundes Niveau zu füllen», sagt De Luca.
Es gebe aber eine grosse Unsicherheit darüber, wie sich die Situation in den nächsten Monaten entwickeln werde. Der Preis ist bereits gestiegen: «Wir hatten Preise für Lieferungen im Juni, Juli, August von ungefähr 80 Euro die Megawattstunde. Heute liegen sie bei über 130 Euro.»
Dass noch Zeit bleibt, um eine Lösung für ein Krisenszenario im Winter zu finden, sagt auch Schmid vom Gasverband. Im Oktober, wenn die Heizsaison beginne, müsse die Schweiz aber bereit für den Winter sein.