Welche Massnahmen braucht es nun? Das bedeutet das historische Klimaurteil für die Schweiz

Sven Ziegler

9.4.2024 - 16:21

Die Klimaseniorinnen jubeln nach dem Urteil in Strassburg. 
Die Klimaseniorinnen jubeln nach dem Urteil in Strassburg. 
Keystone

Die Schweiz ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden. Die Reaktionen und Konsequenzen.

Sven Ziegler

9.4.2024 - 16:21

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz verurteilt. 
  • Das Land unternehme nicht genug beim Klimaschutz.
  • blue News erklärt die Konsequenzen und Reaktionen auf das Urteil.

Zum ersten Mal überhaupt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Land aufgrund ungenügender Massnahmen im Klimaschutz verurteilt. Getroffen hat es die Schweiz – die Klage der sogenannten Klimaseniorinnen hatte Erfolg. 

Was bedeutet das für die Schweiz? Und wie fallen die Reaktionen aus? blue News hat die Übersicht.

Muss die Schweiz jetzt handeln?

Ja – zumindest laut den Behörden. Alain Chablais, Vertreter des Bundes vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), sagte: «Es liegt nun an den Behörden, die Situation zu analysieren und Wege zu skizzieren.»

Es sei ein wichtiges, sorgfältig detailliertes Urteil, das die Schweiz verpflichte, Massnahmen zu ergreifen, sagte Chablais am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Nach dem Präzedenzurteil werde nun die Debatte darüber beginnen, was zu tun sei. Die Schweiz sei verpflichtet, das Urteil zu respektieren.

Chablais gehört dem Bundesamt für Justiz (BJ) an und vertritt die Schweizer Regierung am Strassburger Gerichtshof. Während der Anhörungen vor dem EGMR hatte Chablais festgehalten, dass mit der Beschwerde der Klimaseniorinnen versucht werde, zu suggerieren, dass die Schweiz untätig sei. Er argumentierte auch, dass der Gerichtshof nicht zu dem Ort berufen sei, an dem über die nationale Klimaschutzpolitik entschieden werde.

Die Angelegenheit wird nun politisch: Der Ministerrat des Europarats werde die Massnahmen überwachen, die die Schweiz ergreifen werde, um ihre Versäumnisse zu beheben, sagte Chablais. Es stehe eine breite Debatte bevor, unter Einbezug von Bund, Kantonen und weiteren Behörden. Es sei auch mit Vorstössen in den eidgenössischen Räten zu rechnen. Einen Zeitplan aufzustellen, sei derzeit nicht möglich.

Was muss die Schweiz tun?

Das ist noch offen. Nach Ansicht eines Anwalts des Vereins Klimaseniorinnen wird das Urteil «Geschichte schreiben». Sie zwinge die Eidgenossenschaft und möglicherweise auch andere Länder dazu, mehr für den Klimaschutz zu tun, sagte Nationalrat Raphaël Mahaim (Grüne/VD) nach der Urteilseröffnung.

Die Schweiz könne jedoch die Mittel wählen, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Das Urteil stelle «zum ersten Mal die Verbindung zwischen den Grundrechten und der Klimaveränderung her», sagte Mahaim dem Westschweizer Fernsehen RTS.

Auch Greta Thunberg war am Dienstag in Strassburg vor Ort.
Auch Greta Thunberg war am Dienstag in Strassburg vor Ort.
Keystone

Mahaim sagte, dass der Bund in Bezug auf das Klima «nicht genug tut», und deshalb liege eine Verletzung der Menschenrechte im Sinne von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, der das Recht auf Gesundheit schütze.

Die Richter hätten klar gezeigt, dass sie die Ansicht vertreten, dass das Klima und die Gesundheit besser geschützt werden müssten. Sie würden der Schweiz die Wahl der Mittel dazu überlassen. Das Urteil schreibe dem Bund nicht vor, was er konkret tun müsse, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Über die Massnahmen müsse in der Schweiz nun diskutiert werden.

Sind auch andere Staaten betroffen?

Zunächst nicht. Allerdings hat das Urteil eine möglicherweise historische Auswirkung. Denn: Potenziell könnten alle Staaten des Europarats, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet haben, betroffen sein. Das Urteil «ist ein Präzedenzfall, man kann sich Auswirkungen auf mehr als 40 Länder vorstellen», sagte Anwalt Mahaim. Die Schweiz hat die EMRK 1974 ratifiziert.

Was sagt Bundespräsidentin Amherd?

Währenddessen hat sich Bundespräsidentin Viola Amherd überrascht gezeigt. Dem Land seien nämlich Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Nettonullziel «sehr wichtig», sagte Amherd in Wien.

Die Begründung des Urteils interessiere sie, sagte Amherd bei einer Pressekonferenz mit dem österreichischen Bundespräsidenten Van der Bellen anlässlich ihres Besuchs in Österreich. Sie sei daher gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben.

Was sagen die Parteien?

In der Politik wird die Verurteilung der Schweiz sehr unterschiedlich aufgenommen. Das Recht auf eine gesunde Umwelt sei laut dem Urteil ein Grundrecht, sagte Grünen-Parteipräsidentin Lisa Mazzone am Dienstag in Bern vor den Medien. Es sei das erste derartige Urteil für ein Land und setze ein klares, verbindliches Ziel. Die Mittel, um es zu erreichen, lasse es offen. Die Grünen wollen im Juni in einer dringlichen Debatte im Parlament ihre Forderungen diskutieren.

Für den Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei aber richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei.

Ganz anders der Tenor bei SVP, Mitte und FDP. Der St. Galler SVP-Nationalrat Mike Egger nannte das EGMR-Urteil «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten.

Die Schweiz betreibe eine gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – mit Erfolg, sagte Egger. «Wir haben uns in vielen Punkten verbessert und den Treibhausgasausstoss pro Kopf und auch den Erdöl- und Stromverbrauch deutlich gesenkt.» Dies bestätigten Zahlen des Bundes. Die SVP fordert nun sogar den Austritt aus dem Europarat.

«Völlig unverständlich» ist das Urteil für den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte er mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte revidierte und verschärfte CO₂-Gesetz. Den Bundesrat allein für dieses Nein verantwortlich zu machen, sei «ein Witz».

Mit Material der SDA.

Sven Ziegler