Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan sitzen Taliban-Führer prominent in Talkshows. Einst unbekannte Gesichter erzählen stolz von den Anschlägen der Gruppe. Die Sender stecken in der Zwickmühle.
23.04.2022, 00:00
dpa
Es war August 2021, als der wohl bekannteste Taliban-Vertreter erstmals in Erscheinung trat. Sabiullah Mudschahid, das lange verborgene Gesicht der militant-islamistischen Gruppe, sprach nach der Eroberung der afghanischen Hauptstadt Kabul vor der internationalen Presse.
Heute sind die Taliban regelmässige Gäste in Talkshows der privaten Sender, die einst gar als Anschlagsziel der Gruppe Todesopfer zu beklagen hatten.
Ein bekannter Taliban-Aktivist ist Mobin Khan. Zur besten Sendezeit prahlt er vom Krieg gegen die frühere vom Westen gestützte Regierung. «Wir haben 20 Jahre lang gekämpft. Wir haben unsere Jugend geopfert. Wir haben uns Bomben an den Körper gebunden», sagte Khan jüngst in einer Show des privaten Senders Tolonews. Monatelang habe er im Verborgenen in Kabul ausgeharrt und im Internet gegen die Republik Stimmung gemacht. Er selbst bezeichnet sich als «General».
Medien galten einst als grosse Errungenschaft
Und Mudschahid, damals zuständig für den militärischen Teil der Taliban-Pressearbeit, erzählt von seinen unbeschwerten Reisen durch das Land – auch nachdem er von der Nato vor Jahren aufgegriffen und zeitweise in ein Gefängnis gesteckt wurde. «Ich war sechs Monate im Gefängnis», sagt Mudschahid, der heute als Sprecher der amtierenden Taliban-Regierung auftritt. Nach einem Deal mit der afghanischen Regierung sei er schliesslich frei gekommen. Überprüfen lassen sich diese Erzählungen kaum.
Die Medienlandschaft Afghanistans, immer angepriesen als eine der grossen Errungenschaften nach der internationalen Militärintervention, hat sich nach der Machtübernahme der Taliban dramatisch verändert. Hunderte Redaktionen oder Radiostationen haben der Internationalen Journalisten-Föderation zufolge ihre Arbeit eingestellt, mehr als 2000 Medienschaffende ihren Job verloren. Dutzende Journalisten sind in den vergangenen acht Monaten vorübergehend verhaftet worden, wenn sie etwa über Frauenproteste berichteten.
Druck über Tugendministerium
Besonders zwei Institutionen der Taliban üben Druck auf Medienschaffende aus: Das neu gegründete Ministerium zum Erhalt der Tugend, das sich zuständig für die Festlegung moralischer Werte sieht, und der Inlandsgeheimdienst der Taliban. Das Komitee zum Schutz von Journalisten berichtete im Februar von Inhaftierungen afghanischer Journalisten im berüchtigten Bagram-Gefängnis, wo vor der Taliban-Herrschaft immer wieder Folter- und Missbrauchsvorwürfe gegen US-Soldaten erhoben wurden. Neue Mediengesetze schränken die Arbeit der Sender zusätzlich ein. Die Taliban fordern eine Berichterstattung im Einklang mit islamischen Werten und nationalen Interessen. Was das genau bedeutet, ist oft unklar.
Saad Mohseni, Vorstandsvorsitzender der Moby-Gruppe, die hinter dem bekannten Sender Tolonews steht, hatte nach der Machtübernahme der Taliban schnell Konsequenzen gezogen. «Wir haben unsere Moderatorinnen angewiesen, sich konservativer zu kleiden», sagte der 55-Jährige jüngst in einem Interview mit dem Nachrichtenunternehmen Bloomberg. Auch Musik oder Seifenopern seien gestrichen worden. «Das war klug, denn die Taliban sind in die Sender gegangen und haben gedroht, die Leute mitzunehmen, wenn sie bestimmte Sendungen nicht streichen würden.»
Die derzeitige Situation sei ein Drahtseilakt, ständig sei man in Verhandlungen mit den Taliban. Gleichzeitig habe auch der Sender überraschende Entscheidungen getroffen, etwa die Zahl der Mitarbeiterinnen nach August 2021 erhöht. «Die Taliban tolerieren uns gewissermassen», sagte Mohseni. «Selbst innerhalb der Taliban gibt es Fraktionen, die um die Macht kämpfen und die Medien nutzen, um ihre Ansichten zu verbreiten», erklärte der Medienmogul.
Medienschaffende werden eingeschüchtert
Weniger bekannte Sender sind oft grösserem Druck ausgesetzt. Kaum ein Medienschaffender möchte heute noch öffentlich darüber sprechen, zu gross ist die Angst vor Konsequenzen. Ein Moderator aus Kabul, der lieber anonym bleiben möchte, erzählt etwa von scheinbar wahllosen Verhaftungen in der Hauptstadt. Schwarze Kapuzen hätten die Taliban Mitarbeitern über den Kopf gezogen und in Fahrzeuge gezerrt, ehe sie einige Tage später wieder freigelassen wurden. Journalistinnen und Journalisten haben das Land in Scharen verlassen.
Für die Sender ist die neue Situation eine Zwickmühle. Einerseits wollen sie weiter unabhängig berichten, gleichzeitig drängen Taliban-Vertreter mit radikalen Meinungen in die Talkshows. Öffentlichen Widerspruch können sich viele Medien kaum leisten. Erst vor einer Woche wurde ein bekannter Moderator des Fernsehsenders 1TV, Mohibullah Dschalili, verhaftet und verprügelt. Die Taliban versprachen eine Untersuchung. Organisationen wie Reporter ohne Grenzen sehen hinter diesen Aktionen jedoch gezielte Einschüchterungsversuche.
Die Taliban sind nach zwei Jahrzehnten wieder an der Macht. Was vielen bleibt, ist nur die Hoffnung auf eine veränderte und mutige Zivilgesellschaft. «Die Schikanen gegen Journalisten haben sich infolge der neuen Restriktionen verschärft, vor allem seit Anfang 2022, was in den Medien zu grosser Besorgnis geführt hat», beklagte Reporter ohne Grenzen Anfang April. Die Vereinten Nationen fordern sie zum Handeln auf. «Die Lage der Pressefreiheit in Afghanistan darf nicht unter dem Radar der internationalen Gemeinschaft verschwinden.»