Zürcher Sicherheits-Experte «Man kann nur noch den Flughafen Kabul sichern»

Von Uz Rieger

17.8.2021

Der rasante Siegeszug der Taliban in Afghanistan hat die USA und ihre Verbündeten auf dem falschen Fuss erwischt. Der Zürcher Konflikt- und Sicherheitsforscher Niklas Masuhr zeigt die Ursachen dafür auf und erklärt, was das für Afghanistan und den Westen bedeuten kann. 

Von Uz Rieger

17.8.2021

Die Taliban haben Afghanistans Hauptstadt Kabul viel schneller erreicht als erwartet. Am Flughafen der Stadt spielen sich dramatische Szenen ab – Tausende Menschen versuchen, in Flugzeugen zu entkommen. 

Dem schnellen Siegeszug der Taliban vorausgegangen war der offizielle Abzug internationaler Truppen aus dem Land seit dem 1. Mai. US-Präsident Joe Biden hatte ihn im April in einer Fernsehansprache auch damit begründet, die afghanische Armee – in die die USA mehr als 80 Milliarden Dollar gesteckt hatten – sei gut vorbereitet. Sie verfüge über 300'000 Soldaten, die mit westlicher Hilfe gründlich ausgebildet worden seien. 

Biden sagte zudem, er gehe davon aus, dass die afghanischen Soldaten tapfer gegen die Taliban kämpfen würden. Und noch im letzten Monat hielt der US-Präsident es für ausgeschlossen, dass Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernehmen könnten. Nun ist in Windeseile das Gegenteil eingetreten: Die radikalen Islamisten haben das Land unter ihre Kontrolle gebracht, der Westen steht mit seiner Strategie vor einem Scherbenhaufen.

Zur Person
zvg

Der Konflikt- und Sicherheitsexperte Niklas Masuhr forscht am Center for Security Studies der ETH Zürich.  

«blue News» hat beim Konflikt- und Sicherheitspolitik-Experten Niklas Masuhr vom «Center for Security Studies» an der ETH Zürich nachgefragt, wie das militärische Fiasko in Afghanistan eintreten konnte und was es für das Land und seine westlichen Unterstützer bedeutet.

Herr Masuhr, der rasante Vormarsch der Taliban überrascht. Wie kam es dazu?

Die Beschleunigung des Vormarschs der Taliban hat schon im Mai eingesetzt, die afghanischen Sicherheitskräfte mussten allerdings bereits seit 2014, als die Nato ihre Kampfeinsätze beendete, enorme Verluste hinnehmen. Die Vorstösse, die wir nun seit Juli miterleben, sind die Schlussoffensive der Taliban, die sich bereits angekündigt hatte.

Taliban-Kämpfer sitzen am 15. August 2021 in einem Raum des Präsidentenpalastes in Kabul.
Taliban-Kämpfer sitzen am 15. August 2021 in einem Raum des Präsidentenpalastes in Kabul.
Bild: Keystone

Was sind die Ursachen für den schnellen Vorstoss? 

Die afghanischen Streitkräfte sind als Folge der langjährigen Kämpfe überlastet. Selbst die Spezialtruppen des Kommandokorps, die noch in der Lage waren, offensive Operationen durchzuführen, konnten nur örtlich begrenzt die Taliban aufhalten und sind selbst stark geschwächt. Gleichzeitig wurde dieses Jahr, nachdem US-Präsident Biden im April den endgültigen Rückzug angeordnet hatte, die amerikanische Unterstützung heruntergefahren, etwa bei der Wartung von Flugzeugen und Helikoptern. Das hat zur Handlungsunfähigkeit der afghanischen Streitkräfte entscheidend beigetragen.

Obendrein hat das afghanische Militär ganz klar strukturelle Probleme mit Korruption und auch ihrem Zusammenhalt gehabt, die jetzt zum Vorschein treten.

Was sind die derzeitigen Optionen der Nato und ihrer Partnerländer für Afghanistan?

Aktuell kann man sich nur darauf beschränken, den Flughafen in Kabul zu sichern und Evakuierungen vorzunehmen. Weil man scheinbar nicht damit gerechnet hat, dass die Taliban so schnell vorrücken, gab man die Initiative ab. Es wird wohl primär nur noch darum gehen können, eigenes Personal abzuziehen. Viele derjenigen Ortskräfte, die man vermutlich hätte evakuieren können, wenn man die Situation besser eingeschätzt und besser geplant hätte, können nun wahrscheinlich nicht mehr ausgeflogen werden.

US-Soldaten sichern am 16. August 2021 die Runway auf dem Flughafen in Kabul. 
US-Soldaten sichern am 16. August 2021 die Runway auf dem Flughafen in Kabul. 
Bild: Keystone

Wer wird nun vom Machtwechsel und der Schwächung des Westens in der Region profitieren?

Das ist schwer zu sagen. Auf den ersten Blick sieht das nach Pakistan, China und Russland aus. Aber da kann man nur spekulieren. Wie es in Kabul weitergeht, wird man erst einschätzen können, wenn sichtbar wird, wer die Regierung bildet.

Haben die Taliban überhaupt logische Verbündete?

Wie aus entsprechenden Statements sowohl von China als auch Russland hervorgeht, wollen sich beide Staaten offenbar mit den Taliban arrangieren. Auf den ersten Blick könnte man denken: «Afghanistan hat Bodenschätze, China hat Geld und tätigt global Infrastrukturinvestitionen, das ist eine natürliche Partnerschaft.» Im Einzelnen ist es dann aber sicher komplizierter. Peking fürchtet etwa den möglichen radikalisierenden Einfluss der Taliban auf die Uiguren in China.

Was müssen die USA und ihre Verbündeten aus dem Afghanistan-Fiasko lernen?

Ich denke, erstens, dass es so etwas wie den Afghanistan-Einsatz auf absehbare Zeit nicht mehr geben wird – also gross angelegte Stabilisierungsoperationen und Interventionen. In Zukunft wird man bemüht sein, solche Einsätze möglichst zu begrenzen.

Darüber hinaus wurden über die vergangenen zwanzig Jahre viele Fehler gemacht, die jetzt dazu geführt haben, dass die Situation so eskalierte und man die Initiative aus der Hand gab. Mit Blick auf die aktuelle Situation liegt ein zentraler Fehler wohl in zu optimistischen Einschätzungen zum Zustand der afghanischen Armee. Und auch eine direkte Lektion an die USA und ihre Verbündeten: Will man eine Konfliktführung betreiben, in der das Hauptgewicht auf den Schultern lokaler Partner liegt, dann muss man auch dafür sorgen, dass diese dazu in der Lage sind. Die afghanischen Streitkräfte waren das offensichtlich nicht, auch weil sie möglicherweise nicht angemessen durch westliche Truppen ausgebildet wurden.

Warum hat die afghanische Armee keinen Widerstand gegen die Taliban geleistet?

Ein Grund sind die hohen Abnutzungen über die letzten Jahre. Es ist ja nicht so, dass die Kämpfe erst in diesem Jahr angefangen hätten. Selbst als es offizielle Waffenstillstände gab, haben die Kämpfe ja nie aufgehört.

Auch die Geografie spielt sicher eine Rolle. Nach 2014 haben afghanische Truppen häufig Operationsbasen der Nato und der USA übernommen, waren dann aber geografisch isoliert – insbesondere ohne die grossangelegte logistische Unterstützung wie Helikopter, die sie hätte versorgen können. Das heisst, dass viele dieser Stützpunkte leicht abgeschnitten wurden. Die Taliban konnten deshalb vielerorts lokale Kapitulationen verhandeln.

Die beiden militärischen Stützen der Regierung in Kabul, das Kommandokorps und die Luftwaffe, konnten aufgrund ihres Verschleisses und weil die USA dieses Jahr ihr Unterstützungspersonal abgezogen haben, ihre Last zudem auch nicht mehr tragen.

Und haben auch Stammeszugehörigkeiten und regionale Loyalitäten innerhalb der Armee etwas damit zu tun?

Das ist eines der häufiger genannten Argumente, dass die Zugehörigkeit zum Staat Afghanistan und der Regierung in Kabul eine sehr künstliche ist. Und das wird sicher auch eine Rolle gespielt haben, aber es erklärt auch nicht alles. Die Taliban sind ja auch kein einheitlicher Akteur, der alles zentral koordiniert, sondern eher eine Koalition. Der Vormarsch jetzt ist zwar auf jeden Fall geplant, aber bis auf die unterste Ebene sind sie nicht durchstrukturiert. Gleichzeitig haben die afghanischen Streitkräfte und die Polizei auch darunter gelitten, dass systemische Korruption dazu geführt hat, dass viele Verbände nicht bezahlt wurden, was sicher nicht zu einer Stärkung der Loyalität beitrug.

Was haben Soldaten der afghanischen Armee nun zu erwarten?

Man kann aktuell nur spekulieren, wie sich die Machtübernahme der Taliban für einzelne Gruppen auswirken wird. Mit Blick auf die Sicherheitskräfte hat man in den letzten Jahren und Monaten aber gesehen, dass die Taliban beispielsweise Gefangene aus dem Kommandokorps exekutiert und Piloten der afghanischen Luftwaffe ermordet haben – also gezielt die militärischen Stützen Kabuls auch psychologisch angreifen wollten. Es wird also möglicherweise einen Unterschied geben zwischen dem Infanteristen der Armee oder dem Polizeioffizier auf dem Land und jenen Angehörigen der Sicherheitskräfte, die stärker an den afghanischen Staat, beziehungsweise westliche Truppen, gebunden waren.

Wie stark die Taliban sich an wem rächen wollen, ist offen, sie haben allerdings auf jeden Fall bewiesen, dass sie sehr brutal vorgehen können. Ganz zu schweigen von Mitgliedern der afghanischen Zivilgesellschaft, die sich in den letzten zwanzig Jahren bilden konnte.

Hunderte Afghanen werden am 15. August 2021 dicht gedrängt in einer  C-17 Transportmaschine der U.S. Air Force aus Kabul ausgeflogen. 
Hunderte Afghanen werden am 15. August 2021 dicht gedrängt in einer  C-17 Transportmaschine der U.S. Air Force aus Kabul ausgeflogen. 
Bild: Keystone

Was hat Biden dazu veranlasst zu glauben, Afghanistans Armee könne den Schutz des Landes gewährleisten?

Zum einen haben US-Kommandeure in den vergangenen Jahren die Kampffähigkeit der afghanischen Streitkräfte und Sicherheitskräfte womöglich hochgespielt. Ab 2014 war ja die Strategie: Die Nato und die USA ziehen sich jetzt in den Kampfhandlungen zurück und man übergibt das Feld den Afghanen. Für diejenigen, die am Boden die Verantwortung trugen, gab es also Anreize, die afghanischen Sicherheitskräfte als fähiger darzustellen, als sie es tatsächlich waren. Und womöglich hat man sich insbesondere in den letzten Monaten auf zu optimistische nachrichtendienstliche Prognosen gestützt.

Welche Fehler haben die Nato-Staaten und ihre Partner hinsichtlich der afghanischen Armee gemacht?

Sie haben scheinbar nicht klar genug erkannt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte bis zuletzt noch zu stark abhängig von US-Unterstützung und selbst nie in der Lage waren, ohne beispielsweise amerikanisches Wartungspersonal und die US-Luftwaffe die Linie zu halten. Die Biden-Administration schiebt die Verantwortung für den Kollaps nun auf Kabul, aber das ist natürlich höchstens die halbe Wahrheit, denn in Washington hat man sich natürlich klar verkalkuliert und diesen Kollaps durch den eigenen schnellen Abzug beschleunigt.

Was hätte der Westen zuletzt tun müssen, um die afghanische Armee zu stabilisieren?

Hier kann man nicht einfach einen Wendepunkt identifizieren, an dem der Westen oder die USA zu einem anderen Ergebnis hätten kommen können. Der Rückzug ging 2014 unter Obama los, setzte sich unter Trump fort und eigentlich steuern wir seit sechs oder sieben Jahren auf diesen Punkt hin. Was man auf jeden Fall hätte anders machen können und müssen – nicht strategisch notwendigerweise, sondern operativ, ist der finale Rückzug.

Der Abzug wäre in jedem Fall passiert, aber man hätte wohl bedeutend mehr Ortskräfte evakuieren können, als man es jetzt tut und zudem wäre der politische Schaden für die Glaubwürdigkeit sicher geringer, wenn man das Ganze geordneter durchgeführt hätte. Es wäre politisch sicher nicht einfach gewesen, jetzt auf den letzten Metern, aus Perspektive der USA, die Truppenstärke zu erhöhen, wie man es hätte machen müssen – aber die humanitäre Katastrophe, die sich in Kabul ankündigt, hätte wohl zumindest abgefedert werden können.