Nahostkonflikt«Es ist paradox, aber die Extremisten auf beiden Seiten brauchen einander»
Von Lia Pescatore
21.5.2021
Der Nahostexperte Andreas Böhm sieht in der aktuellen Waffenruhe keinen grossen Durchbruch. Die Legitimität von Netanjahu und der Hamas sei von diesem Konflikt abhängig, sagt er im Interview mit «blue News».
Von Lia Pescatore
21.05.2021, 18:26
25.05.2021, 09:02
Lia Pescatore
Seit heute Morgen früh herrscht Waffenruhe zwischen Israel und Hamas. Ist dies ein Durchbruch oder bloss eine Verschnaufpause?
Sowohl die israelische Regierung als auch die Hamas haben gesagt, dass sie die Waffen ruhen lassen werden, solange die andere Partei sich daran hält. Es besteht also die Gefahr, dass eine neue Provokation zu einer erneuten Eskalation führt. Dafür spricht auch die Erfahrung von früher. Auch beim letzten Ausbruch im Jahr 2014 hatte Ägypten zunächst einen Waffenstillstand ausgehandelt, der mehrmals gebrochen wurde. Es brauchte damals mehrere Versuche, bis es endlich ruhig wurde.
2014 hat Netanjahu aber auch noch mit einer grossen Bodenoffensive reagiert. Warum hält er sich aktuell mehr zurück?
Das hat sicher damit zu tun, dass die Macht der Bilder wesentlich stärker geworden ist. Natürlich war schon der Arabische Frühling 2011 stark durch soziale Medien organisiert. Aber die Art und Weise, wie heute Bilder und Videos in kürzester Zeit Millionen von Menschen in der ganzen Welt erreichen können, das gab es 2014 noch nicht. Ausschlaggebend ist, dass die israelische Propaganda die Informationsverbreitung nicht mehr gleich steuern kann. Israel hat dadurch die Kontrolle über die Narrative verloren und ist darum auch zurückhaltender geworden.
Andreas Böhm
zVg
Andreas Böhm leitet das Kompetenzzentrum für Philanthropie an der Universität St. Gallen, sein Schwerpunkt liegt auf dem Nahen und Mittleren Osten. Im selben Themenbereich hat er von 2008 bis 2015 in der Privatwirtschaft als politischer Analyst gearbeitet.
Ist dies auch Grund für die weltweite Resonanz der Anliegen der Palästinenser?
Der grosse Zuspruch gründet vor allem darauf, dass in letzter Zeit grosse Emanzipationsbewegungen wie die «Black Lives Matter»-Bewegung einen Resonanzboden geschaffen haben. Die Aktivisten prangern systematische Benachteiligung und strukturellen Rassismus an. Hier ergeben sich Anknüpfungspunkte zu den Anliegen der Palästinenser. Auch die Wahl von Joe Biden hat dazu beigetragen. Er ist zwar nicht dem eher linken Flügel der Demokraten zuzurechnen, hat aber einige von dessen Anliegen aufgenommen. Das alleine hat eine Verschiebung des Diskurses bewirkt.
Beide Seiten feiern ihren Sieg. Kann es wirklich zwei Sieger geben?
Sowohl der Hamas als auch Premier Netanyahu kam die Eskalation nicht ungelegen. Die Hamas konnten ihren Einfluss unter den Palästinensern stärken. Die Fatah hat durch Korruption und fehlende politische Schlagkraft Vertrauen verloren. Da konnte sich die Hamas profilieren. Auch Netanjahu konnte vom Konflikt profitieren. Seine Stellung war durch den voranschreitenden Regierungsbildungsprozess unter Führung von Yair Lapid bedroht. Netanjahu positioniert sich als einziger, der Israel gegen die Bedrohung durch den Iran führen kann. Die Bildung einer neuen Regierung würde seine Rolle infrage stellen. Dies konnte er zunächst abwehren. Es ist paradox, aber die Extremisten auf beiden Seiten brauchen einander und gehen vorerst gestärkt hervor.
So kommt der Konflikt nicht zu einem Ende?
Nein, denn die grundlegenden Probleme bleiben bestehen. Die Hamas hat das Ziel, den Staat Israel als Ganzes zu vernichten, so haben sie es jedenfalls in ihrem Manifest festgehalten. Sie werden also wieder angreifen, denn ihre Legitimation beruht auf diesem Antagonismus. Ob sie, wie die PLO, davon einmal abrückt, muss offenbleiben. Bei Netanjahu ist es nicht viel anders. Er braucht den Antagonismus, um die Besiedelung der Westbank voranzutreiben. Die Annexion der besetzten Gebiete steht nach wie vor im Raum. Es kann also gut sein, dass es zu weiteren Eskalationen kommt, wenn Netanjahu die Siedlungsgebiete weitertreibt.
Ist eine Zwei-Staaten-Lösung noch realistisch oder rückt diese in weite Ferne?
Durch den Siedlungsbau seit dem Oslo-Abkommen 1993 ist die Zwei-Staaten-Lösung faktisch wohl verunmöglicht worden. Wollte man die über 600'000 israelischen Siedler in der Westbank evakuieren, führte dies wohl zu einem Bürgerkrieg. Die Alternative wäre ein Staat, in dem alle die gleichen Rechte haben. Aber dies setzt den Willen voraus, die jeweils anderen als gleiche anzuerkennen. Schwer vorstellbar, dass sich Israel darauf einliesse. Zudem: Wenn Deutschschweizer und Romands unter dem Dach eines Staates leben, ist das eine Sache, dort wäre es eine andere.
Was kann die Schweiz tun?
Gesprächsfäden aufrechterhalten und, etwa auch über das IKRK, humanitäre Dienste leisten. Nun muss der Gaza-Streifen wieder aufgebaut werden, die Wohnungen, Infrastruktur, Spitäler, die Wasser- und Abwassersysteme, die zerstört worden sind. Eine sinnvolle Direktmassnahme wäre zum Beispiel, dass man den Anwohnern in Gaza den Covid-Impfstoff zur Verfügung stellt. Die Anzahl der Geimpften ist momentan marginal. Dabei ist der Gaza-Streifen eines der am dichtesten besiedelten Gebiete überhaupt, da hat sich Covid wie ein Lauffeuer ausgebreitet. Hier könnte die Schweiz sicher etwas tun.