Polen pfeift auf die Werte der EU «... dann wollen wir in diesem Mittelalter leben»

phi

30.10.2021

Pro-EU-Demonstration am 10. Oktober in Warschau: Zeichen stehen auf Konfrontation.
Pro-EU-Demonstration am 10. Oktober in Warschau: Zeichen stehen auf Konfrontation.
Bild: KEYSTONE

Nach EU-Urteilen muss Polen 1,6 Millionen Franken Busse an Brüssel zahlen – pro Tag. Doch Warschau ignoriert die Strafen einfach und der nächste Konflikt ist bereits programmiert. Wo soll das hinführen?

phi

30.10.2021

Der Konflikt zwischen Polen und der EU spitzt sich immer weiter zu. Das lässt sich in Zahlen ausdrücken: Eigentlich muss Warschau Brüssel derzeit Bussen in Höhe von 1,6 Millionen Franken überweisen. Und zwar jeden Tag. Monatlich macht das durchschnittlich 48 Millionen Franken.

Doch die Fehlbare denkt gar nicht daran, dem nachzukommen. «Polen kann und sollte auch nicht nur einen einzigen Zloty zahlen», empörte sich Justizminister Zbigniew Ziobro und legte nach: «Der polnische Staat darf sich nicht der Gesetzlosigkeit beugen.» Die Bussgelder seien «rechtswidrig» und sollten «ignoriert» werden, bis «Eurokraten zur Besinnung» kämen.

Wie kommt die Summe zustande? Die EU hat dem osteuropäischen Land eine Strafe von täglich 500'000 Euro und eine von einer Million Euro täglich aufgebrummt. Erstere sanktioniert, dass das Land den Braunkohle-Tagebau in Turow nicht einstellt, während Letztere der polnischen Justizreform geschuldet ist.

Justizstreit: Täglich eine Million Euro Zwangsgeld für Polen

Justizstreit: Täglich eine Million Euro Zwangsgeld für Polen

Im Konflikt um die umstrittenen polnischen Justizreformen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg das Land angewiesen, der EU-Kommission täglich eine Million Euro Zwangsgeld zu zahlen.

27.10.2021

Am Mittwoch hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in dem Fall sein Urteil gesprochen: Die Millionen-Strafe sei nötig, «um gravierenden und irreparablen Schaden von der Rechtsordnung der Europäischen Union und von den Werten abzuwenden», auf denen die Union gegründet wurde. Den Richtern gehe es insbesondere um das Prinzip «Rechtsstaatlichkeit», betonten diese in Brüssel.

Als grösster Zankapfel gilt die neue Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die mit Billigung der Regierungspartei Richter massregeln kann. Viele polnische Experten sehen in dem Gremium ein Werkzeug, um die Justiz zu Urteilen zu drängen, die im Sinne der Politiker sind. Im Juli hatte der EuGH die Auflösung der Kammer angeordnet, doch die arbeitet weiter.

Wer hat mehr recht?

Auch das Urteil zum Tagebau in Turow hat Warschau kaltgelassen: Dort wird weiter Kohle gefördert, obwohl einer Klage des benachbarten Tschechiens stattgegeben wurde, das sich um sein Grundwasser sorgt. Polen kontert, der Energieträger sei für die Strom-Versorgung unabdingbar.

Polnische Mienen-Arbeiter protestieren nahe dem EuGH in Luxemburg am 22. Oktober gegen die Rechtsprechung der EU in Sachen Tagebau Turow.
Polnische Mienen-Arbeiter protestieren nahe dem EuGH in Luxemburg am 22. Oktober gegen die Rechtsprechung der EU in Sachen Tagebau Turow.
Bild: KEYSTONE

Doch letztlich geht es um eine Frage, über die schon länger laut nachgedacht wird: Steht EU-Recht über nationalem Recht oder nicht? Erst kürzlich ist der Konflikt erneut hochgekocht, als das Verfassungsgericht befand, dass polnische Gesetze im Zweifel Vorrang vor jenen der EU hätten. Brüssel konterte, die Regierung unter der national-konservativen PiS habe die Posten in Polens höchster Instanz mit handverlesenen Leuten besetzt.

Entspannung ist in dem Konflikt nicht in Sicht. Der frühere Justizminister Michal Wojcik suggeriert, dass sein Land das Urteil ignorieren werde, weil der EuGH ausserhalb seiner Kompetenzen gehandelt haben dürfte. Wojciks Nachfolger Ziobro betonte kämpferisch: «Nur die Schwachen geben Druck nach.» Und sein Stellvertreter von der Regierungspartei Vereintes Polen doppelte nach, Polen könne seine Beitragszahlungen stoppen.

«Die LGBT-Bewegung will Terror einführen»

Ausgerechnet in dieser angespannten Lage haben die Volksvertreter in Warschau über ein weiteres Gesetz diskutiert, das auf dem Kontinent für Kontroversen sorgt: das geplante «Stop LGBT»-Gesetz. Heute entscheidet das Parlament, ob der Entwurf in die zweite Lesung geht, der die «Förderung» gleichgeschlechtlicher Beziehungen und Paraden von Homosexuellen verbieten lassen will.

Solidarität mit der LGBTQ-Gemeinde: Polen demonstrieren am 23. Oktober in Lublin.
Solidarität mit der LGBTQ-Gemeinde: Polen demonstrieren am 23. Oktober in Lublin.
Bild: KEYSTONE

Die Befürworter sparten nicht an Dramatik. «LGBT beginnt seinen Marsch an die Macht, wie die NSDAP ihren Marsch an die Macht in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann», beschrieb Gesetzes-Initiant Krzysztof Kasprzak die Bewegung. Sie wolle «Terror einführen. Das sehen wir im Westen». «Wir wollen Normalität in Polen», pflichtete PiS-Parlamentarier Piotr Kaleta bei. «Wenn man uns vorwirft, im Mittelalter zu leben, dann wollen wir in diesem Mittelalter leben.»

Von den Mitte- und Links-Parteien hagelte es deutliche Kritik – wie auch schon beim Fall Turow und in Sachen Justiz-Reform. Wenn Polen dieses Gesetz weiter vorantreibt, ist der nächste Konflikt mit Brüssel programmiert, während sich die Bussen weiter anhäufen. Dass Polen finanzielle Probleme bekommt, ist indes nicht zu erwarten: Allein aus dem Corona-Hilfspaket stehen dem Land noch EU-Hilfen über 25,5 Milliarden Franken zu.

Mit Material von AP.