Nach VertrauensfrageDas bedeutet Boris Johnsons Schwäche international
Von Jill Lawless, AP
12.6.2022 - 00:00
Obwohl er das Misstrauensvotum überstanden hat, ist der britische Premierminister stark angeschlagen. Das hat nicht nur innenpolitisch Folgen, sondern zieht auch im Ausland Kreise.
DPA, Von Jill Lawless, AP
12.06.2022, 00:00
12.06.2022, 10:05
dpa
Als Boris Johnson das Misstrauensvotum überstand, teilte mindestens ein Staatschef die Erleichterung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete es als grossartige Neuigkeit, «einen sehr wichtigen Verbündeten» nicht verloren zu haben. Für den britischen Premierminister, der das Land und seine Partei spaltet, war das ein willkommener Zuspruch.
Denn nach seinem relativ knappen Sieg bei dem Votum der Konservativen am Montag bleibt Johnson zwar an der Macht, sieht sich aber geschwächt. Das hat Implikationen über Grossbritannien hinaus. Es sei schwierig für Johnson, sich um internationale Herausforderungen zu kümmern, solange er gegen seine eigene Partei zu kämpfen habe, sagt David Lawrence, Experte für internationale Angelegenheiten bei der Denkfabrik Chatham House.
Wichtiger Verbündeter Selenskyjs
Der britische Premierminister hat viele Gegner in London und bei der EU in Brüssel. In Kiew hingegen wird er herzlicher empfangen: Seine entschlossene Unterstützung für den ukrainischen Kampf gegen die russische Invasion – unter anderem in Form von militärischer und humanitärer Hilfe im Umfang von etwa drei Milliarden Pfund (3,6 Milliarden Euro) – hat ihm dort viele Fans eingebracht. Eine Bäckerei in der ukrainischen Hauptstadt benannte sogar einen Kuchen nach ihm.
Johnsons gutes Verhältnis zu Selenskyj sei ein Vorteil für beide, sagt Lawrence. Auf die britische Unterstützung für die Ukraine dürfte Johnsons Schwächung nach Ansicht von Experten keine Auswirkungen haben. Denn sowohl bei den regierenden Konservativen als auch bei der Labour-Opposition ist der Rückhalt gross für militärische Hilfe für Kiew sowie harte Sanktionen gegen Moskau.
Weniger Spielraum in den Verhandlungen mit der EU
Unmittelbarer dürften die Konsequenzen für die britischen Beziehungen zur EU ausfallen. Johnson hatte 2019 mit dem Versprechen, den Brexit zu vollziehen, die Wahl gewonnen. Seitdem streitet er mit Brüssel über Handelsregeln für Nordirland, den einzigen Teil Grossbritanniens mit einer Grenze zu einem EU-Land.
Ein Konflikt um Zollkontrollen für Güter, die aus dem übrigen Königreich nach Nordirland kommen, hat eine politische Krise in Belfast ausgelöst. Diese destabilisiert das empfindliche Gleichgewicht zwischen irischen Nationalisten und britischen Unionisten, auf dem der Frieden in Nordirland fusst. Grossbritannien und die EU werfen sich gegenseitig mangelnde Kompromissbereitschaft vor.
Jetzt hat Johnson angekündigt, unilateral vorzugehen: Er will ein Gesetz verabschieden, das Teile des bindenden Abkommens mit der EU aufheben soll. Das Misstrauensvotum hat dieses Gesetz verzögert, das eigentlich in den vergangenen Tagen erwartet worden war.
Nach Ansicht von Experten hat das Votum Johnsons Handlungsspielraum eingeschränkt. Denn er kann es sich weder bei den Brexit-Hardlinern noch bei den EU-freundlicheren Abgeordneten seiner Partei leisten, sie zu verärgern. Zudem ist Brüssel nun weniger kompromisswillig, was die Möglichkeit eines Handelskriegs zwischen Grossbritannien und der EU erhöht.
«Die Europäische Union hält Boris Johnson zunehmend für zu schwach, um ein Entgegenkommen wert zu sein», sagt Anand Menon, Grossbritannien-Direktor des Thinktanks Changing Europe. Auf Seiten der EU herrsche die Auffassung: «Warum um Himmels willen sollten wir jetzt Zugeständnisse machen, wenn dieser Typ womöglich nicht mehr sehr lange an der Macht ist?»
Hintergrund des Misstrauensvotums waren Partys in Regierungsgebäuden während des Corona-Lockdowns, an denen Regierungsbeamte und in einigen Fällen der Premierminister selbst teilgenommen hatten. Die Enthüllungen hatten grossen Unmut bei Millionen Britinnen und Briten geschürt, die keine Freunde treffen und sogar sterbende Angehörige nicht besuchen durften.
Auch einige Konservative zeigten sich besorgt über einen Regierungschef, der sich häufig benimmt, als ob er über den Regeln steht. Nach den Richtlinien der Partei ist nun ein Jahr lang kein weiteres Misstrauensvotum gegen Johnson möglich. Doch 41 Prozent der Konservativen stimmten für seine Amtsenthebung, und nur wenige glauben, dass er sicher ist in seinem Job.
Ein möglicher Nachfolger und eine Nachfolgerin werden gehandelt
Falls Johnson entmachtet wird oder zurücktritt, würde die Partei einen neuen Vorsitzenden wählen, der auch Premierminister würde. Für eine mögliche Nachfolge werden unter anderen die derzeitige Aussenministerin Liz Truss und ihr Vor-Vorgänger Jeremy Hunt gehandelt. Unter ihnen könnte sich die britische Aussenpolitik wandeln – weg von Johnsons klarem Fokus auf den Brexit.
Mujtaba Rahman vom Beratungsunternehmen Eurasia Group hält es hier für die wichtigste Aufgabe, das zerrüttete Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU zu kitten. Nicht zuletzt würde das helfen, auch die durch den Brexit belasteten Beziehungen Londons zu den USA wieder zu verbessern, sagt er. Das Hindernis dabei sei aber Boris Johnson: «Ich sehe keine Möglichkeit für Verbesserungen, solange er nicht ersetzt wird.»
Nachfolge Johnson
Werden als mögliche Nachfolger*innen von Boris Johnson gehandelt: die britische Aussenministerin Liz Truss...
Bild: Victoria Jones/PA Wire/dpa
... und ihr Vor-Vorgänger Jeremy Hunt. EPA/VICKIE FLORES
Bild: Keystone/EPA/Vickie Flores
Nachfolge Johnson
Werden als mögliche Nachfolger*innen von Boris Johnson gehandelt: die britische Aussenministerin Liz Truss...
Bild: Victoria Jones/PA Wire/dpa
... und ihr Vor-Vorgänger Jeremy Hunt. EPA/VICKIE FLORES