GrossbritannienDas britische Impfprogramm und seine Tücken
dpa/tpfi
15.2.2021 - 19:06
Neidisch richten sich derzeit die Augen aus Europa auf die Insel, wenn es ums Impfen geht. Doch die ambitionierte Offensive der Briten ist nicht ohne Schattenseiten.
Mehr als jeder vierte Erwachsene in Grossbritannien hat den ersten schützenden Piks bereits bekommen.
Rund 15 Millionen Bürger, und damit die am stärksten gefährdeten Gruppen, sind bis Mitte Februar mit einer ersten Dosis geimpft worden – so wie von Premier Boris Johnson zu Beginn des Jahres als ambitioniertes Etappenziel ausgegeben. «Das ist ein einzigartiger, nationaler Erfolg», jubelte der Premier. Es ist der erste echte Erfolg seiner Regierung in der Corona-Pandemie – nach einer beispiellosen Serie von Pleiten und Fehlentscheidungen.
Dank schnellerer Zulassung konnte Grossbritannien schon am 8. Dezember mit dem Impfen beginnen – und über die ersten Wochen massiv Tempo aufbauen. Impfzentren eröffneten im Wochentakt, auch Hausärzte und Apotheken durften schnell mithelfen. Das Impfen wurde zum Event, zum Beispiel im Stadion oder in der berühmten Kathedrale in Salisbury, wo Senioren zu den Klängen der Orgel immunisiert wurden.
Erst als rund um den Jahreswechsel auch die EU-Länder mit dem Impfen starteten und es auf dem Kontinent hier und da hakte, wurde klar: Viele Zahnrädchen des britischen Impfprogramms scheinen recht lautlos zu funktionieren, immer wieder verkündete die Regierung neue Tagesrekorde.
Konservative Brexiteers brauchten nicht lang, um dies als frühen Erfolg des EU-Austritts zu verkaufen: Endlich frei von den lästigen, langsamen Mühlen der EU – so das Narrativ. Doch Kate Bingham, die Chefin der britischen Impf-Taskforce, hält wenig von dieser Interpretation. Ihre langjährigen Kontakte in der Pharmabranche hätten es ihr ermöglicht, Impfstoff-Hersteller direkt anzurufen und frühzeitig umfangreiche Verträge abzuschliessen, erzählte sie vor kurzem der «Welt am Sonntag».
Sollten weitere aussichtsreiche Impfstoffkandidaten wie Johnson & Johnson oder Novavax auch zugelassen werden, hat Grossbritannien genug Impfdosen bestellt, um die eigene Bevölkerung gleich dreimal zu impfen. Das sind Zahlen, von denen man in der EU, wo Kommissionschefin Ursula von der Leyen mittlerweile Fehler bei der Beschaffung eingeräumt hat, derzeit nur träumen kann. Ganz zu schweigen von ärmeren Ländern. «Die Regierung hat gepokert – und das hat sich in diesem Fall ausgezahlt», sagte der Mediziner Azeem Majeed vom Imperial College London der Deutschen Presse-Agentur.
Die WHO rief die Briten bereits dazu auf, Impfdosen abzugeben, sobald die Älteren und Gefährdeten im Land geimpft seien. Doch davon hält die Johnson-Regierung wenig. Sie bekennt sich zwar zur Unterstützung ärmerer Länder, etwa in der Covax-Initiative, ist aber entschlossen, die eigene Bevölkerung schnellstmöglich weiter durchzuimpfen.
Einem Bericht von Sky News zufolge hätten Minister, die nicht müde werden, den Impfstoff der Uni Oxford und des Pharmakonzerns Astrazeneca als «grossen britischen Erfolg» zu feiern, auf dessen Fläschchen am liebsten den Union Jack gedruckt, die britische Nationalflagge. «Das als Produkt eines einzelnen Landes darzustellen, ist Nationalismus und nicht unbedingt wahr», kritisierte der englische Hausarzt Paul Williams im Gespräch mit dem Sender. Es führe sogar vereinzelt dazu, dass Menschen eine Biontech-Impfung ablehnten, weil sie auf den «englischen Impfstoff» warten wollten.
Seinen Höhepunkt erreichte der Missmut über die «Britain First»-Strategie, als Streit mit der EU entbrannte, deren Mitgliedstaaten beim Astrazeneca-Impfstoff bislang das Nachsehen haben. Der Konzern liefert im ersten Quartal des Jahres deutlich weniger Dosen an den Kontinent als zunächst erwartet. Berichten zufolge enthält Grossbritanniens Vertrag mit Astrazeneca recht klare Vereinbarungen darüber, dass der im Land hergestellte Impfstoff auch für das Land reserviert bleibt. Konzernchef Pascal Soriot sagte dazu, die EU habe eben erst deutlich später ihre Impfdosen bestellt.
Impf-Experte Majeed rechnet damit, dass sich schon bald die Unterschiede zwischen Grossbritannien und den europäischen Ländern ausgleichen werden – nämlich, wenn mehr Impfstoff zur Verfügung steht und Grossbritannien die zweiten Dosen verteilen muss.
Doch auch epidemiologisch betrachtet ist die britische Offensive nicht ohne Risiko: Um schneller mehr Menschen zu immunisieren, setzt das Land beim Abstand zwischen der ersten und zweiten Impfdosis, die für den vollen Schutz nötig ist, auf einen Abstand von zwölf Wochen. Während das bei dem Astrazeneca-Impfstoff mittlerweile als wissenschaftlich abgesichert gilt, ist das bei dem ebenfalls eingesetzten Mittel von Biontech und Pfizer anders. Hier empfiehlt der Hersteller einen Abstand von drei bis vier Wochen.
Dass es trotzdem gut geht, ist mehr Hoffnung als Wissenschaft. Es bestehe das Risiko, dass sich in der Zwischenzeit keine ausreichende Immunität entwickle und dass leichter neue Mutationen entstünden, sagte Majeed vom Imperial College London. Wäre es nach ihm gegangen, hätte sein Land sich an die Empfehlung von Biontech gehalten.
Ausserdem legen die Briten – anders als weitgehend in Deutschland üblich – nicht direkt beim ersten Piks die zweite Dosis für die entsprechende Person zurück, sondern vertrauen darauf, dass die Lieferketten stabil bleiben und später ausreichend Dosen da sind. Ob sich das bewahrheiten wird, bleibt abzuwarten. Aus Schottland hiess es vor einigen Tagen, man müsse das Tempo des Impfens womöglich langsam zurückschrauben – weil beim Biontech/Pfizer-Mittel zumindest vorübergehend der Nachschub knapp wird.
«Das ist kein Moment zum Entspannen», betonte auch Johnson. «Die Gefahr bleibt sehr real.» Seine Ziele bleiben dennoch ambitioniert: Bis Ende April sollen alle über 50-jährigen Briten den rettenden ersten Piks erhalten.