Experte zu Truss' Rücktritt «Das ist der komplette Wahnsinn»

Von Monique Misteli

20.10.2022

Britische Premierministerin Truss tritt zurück

Britische Premierministerin Truss tritt zurück

Nach nur sechs Wochen im Amt hat die britische Regierungschefin Liz Truss ihren Rücktritt erklärt. Die parteiinterne Wahl ihres Nachfolgers an der Spitze der konservativen Partei – und damit des Premierministers – solle bis kommende Woche stattfin

20.10.2022

Liz Truss gibt auf. Was bedeutet der Rücktritt der Premierministerin für Grossbritannien? Ein Experte wagt im Gespräch mit blue News eine Einschätzung.

Von Monique Misteli

20.10.2022

Nach gerade einmal sechs Wochen im Amt hat Liz Truss am Donnerstagnachmittag ihren Rücktritt als Premier verkündet. Laut Jonathan Slapin vom Institut für Politikwissenschaften an der Universität Zürich und Kenner der britischen Politik ist die Tory-Partei regelrecht implodiert.

Herr Slapin, sind Sie vom heutigen Rücktritt überrascht?

Ja, ehrlich gesagt schon. Ich habe schon erwartet, dass sich Truss nicht lange im Amt halten kann. Dass es nun so schnell ging, damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Vielmehr, dass sie sich noch bis zur nächsten Wahl in gut zwei Jahren durchkämpft.

Wie schätzen Sie den Rücktritt ein?

Das ist der komplette Wahnsinn. Das ist die kürzeste Amtszeit einer Premier in der britischen Geschichte. Selbst Johnson war nicht lange im Amt, jetzt gibt es schon wieder einen Wechsel. Die ganze Tory-Partei ist implodiert.

Inwiefern?

Zur Person
Bild: Institut für Politikwissenschaft Universität Zürich

Jonathan Slapin studierte Politikwissenschaft an der Rutgers University und war DAAD-Stipendiat an der Universität Konstanz. 2007 promovierte er an der University of California in Los Angeles. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen demokratische Politik, politische Parteien und Gesetzgebungspolitik. Seit dem 1. August 2019 ist er Professor für politische Institutionen und europäische Politik an der Universität Zürich.

Es ist eine Kombination aus internen Parteikämpfen bezüglich Politik, aber auch unter den Personen selbst gibt es viele Unstimmigkeiten. Die Tories sind mit sich selbst zu beschäftigt.

Hätte man das Scheitern von Truss vorhersehen können?

Das ist schwer zu sagen. Truss hatte von Anfang an zu wenig Vertrauen, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik. Ihre stark ideologisch geprägte Politik, also die stark liberale Wirtschaftspolitik, passte einfach nicht in die heutige Zeit. Sie und ihre Regierung haben am Volk und den aktuellen Gegebenheiten vorbei politisiert.

Warum wurde sie dann Parteichefin und Premierministerin?

Dass Truss überhaupt gewählt wurde, ist für mich ein Zeichen, dass den Tories eine Leitfigur, eine Führungspersönlichkeit fehlt. Denn Truss war nicht qualifiziert für den Posten.

Wer folgt auf Liz Truss?

Auch das ist schwierig zu sagen. Ich kann mir vorstellen, dass Rishi Sunak nochmals antritt. Der ist ja schon gegen Truss ins Rennen gestiegen. Aber egal wer die Stelle antritt, der oder die wird politisch tot sein, nach der Übernahme dieses Scheiterhaufens: Verhandlungen mit der EU, Folgen des Brexits, Energiekrise, Inflation, um nur einige zu nennen.

Wie geht es mit Grossbritannien jetzt weiter?

Ich gehe ich davon aus, dass die Tories die schwierige Situation jetzt einfach aussitzen werden bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2024.

Bis dahin werden sie wohl versuchen, die parteiinternen Differenzen etwas zu verkleinern, damit sie wenigstens für die nächsten Wahlen noch etwas Halt in der Bevölkerung finden.

Das politische System in Grossbritannien wird ziemlich sicher bestehen bleiben. Was aber durchaus möglich wäre: dass sich die Tories in zwei Parteien teilen. Eine, die eher pragmatisch und näher an Europa ist, und eine, die eher konservativ bleibt.