Umsturzpläne in Deutschland «Das jetzt aufgedeckte Netzwerk stellt eine Zäsur dar»

Von Oliver Kohlmaier

10.12.2022

Wollte Staatsoberhaupt Deutschlands werden: Heinrich XIII. Prinz Reuss wird von Polizeibeamten abgeführt.
Wollte Staatsoberhaupt Deutschlands werden: Heinrich XIII. Prinz Reuss wird von Polizeibeamten abgeführt.
Boris Roessler/dpa

Sie planten den Umsturz, hatten Waffen — und bereits Ministerposten vergeben. Wie gefährlich war die nun zerschlagene Gruppierung in Deutschland? Und gibt es auch in der Schweiz Reichsbürger?

Von Oliver Kohlmaier

10.12.2022

3'000 Beamte, 25 Festnahmen in elf Bundesländern, Österreich und Italien, bislang 54 Beschuldigte. Es war einer der grössten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Am Mittwoch liess die Bundesanwaltschaft im Rahmen einer Grossrazzia über 130 Objekte durchsuchen. In 50 davon wurden Waffen und Munition gefunden. Das Vorgehen richtet sich gegen eine Gruppe aus der sogenannten Reichsbürgerbewegung, die in Deutschland seit einigen Jahren erheblichen Zulauf erfährt. Sie planten den Sturz der deutschen Bundesregierung und wollten eine eigene Staatsordnung etablieren.

Prinz Heinrich XIII als Staatsoberhaupt

Neben Reserve-Mitgliedern der deutschen Bundeswehr wurde auch die Richterin und ehemalige AfD-Abgeordnete Birgit Malsack-Winkemann verhaftet. Sie war vom «Rat», dem zentralen Gremium der Gruppe, vorgesehen als künftige Justizministerin. Beim Kopf der mutmasslichen Terrorgruppe handelt es sich um den thüringischen Adeligen Heinrich XIII Prinz Reuss, den seine eigene Familie als «verwirrten alten Mann» bezeichnet.

Der Schlag gegen die mutmassliche Terrorgruppe sorgte nun weltweit für Schlagzeilen, mitunter jedoch auch für Stirnrunzeln. So viel Aufwand wegen ein paar Wirrköpfen?

Es ist schon lange her, dass sich auch in deutschen Sicherheitskreisen manche über die vermeintlichen Spinner lustig machten. Spätestens seit dem Tod eines Polizeibeamten in Bayern lacht niemand mehr über die Bewegung.

Vorliebe für Schusswaffen

Während eines Einsatzes wegen illegalen Waffenbesitzes erschoss ein Reichsbürger 2016 einen Polizisten und verletzte drei weitere. Und im April dieses Jahres wurden zudem Pläne einer Reichsbürger-Gruppierung vereitelt, den deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen.

Auch der Extremismus-Forscher Dirk Baier warnt davor, die Bewegung zu verharmlosen. «Bereits in der Vergangenheit war die Einschätzung, dass es sich um Spinner handelt, nicht gerechtfertigt», schreibt der Soziologe von der ZHAW auf Anfrage von blue News und fügt hinzu: «Wenn die Ideen tatsächlich wie Spinnereien erscheinen, sind die Reichsbürger alles andere als harmlos, weil viele eine Vorliebe für Schusswaffen haben und auch nicht davor zurückschrecken, diese einzusetzen.»

Zur Person
zVg

Der Extremismus-Forscher Dirk Baier ist Professor für Soziologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und leitet dort das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention.

Die Reichsbürger arbeiten Baier zufolge nun aktiv und organisiert zusammen, mit dem Ziel des System-Sturzes. Zuvor seien sie eher durch Rückzug ins Private und individuelle Abkehr vom System gekennzeichnet gewesen. Daher kommt Baier zu dem Schluss: «Das jetzt aufgedeckte Netzwerk stellt eine Zäsur dar.»

«Die Gewaltanwendung war sehr wahrscheinlich»

An eine erfolgreiche Durchführung der Pläne glaubt indessen auch er nicht: «Einen Umsturz, also die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch irgendein autokratisches System ist aus meiner Sicht vollkommen ausgeschlossen», schreibt der Soziologe. Dafür sei die Reichsbürgerszene selbst und auch ihre Anhängerschaft zu klein. Jedoch sei es «keinesfalls ausgeschlossen, dass die Gruppe zur Tat übergegangen wäre.» Die grosse Razzia hält Baier daher für gerechtfertigt: «Die Gewaltanwendung war sehr wahrscheinlich – und mit ihr die Verletzung oder Tötung von Menschen.»

Um eine einheitliche Strömung handelt es sich jedenfalls nicht. Die Bewegung ist insgesamt heterogen zusammengesetzt, die Spanne reicht von üblichen Querulanten über Esoteriker bis hin zu Neonazis. Gemeinsam haben sie jedoch die Ablehnung der demokratischen Strukturen Deutschlands.

Sie erkennen die Bundesrepublik nicht an und berufen sich darauf, dass das deutsche Reich angeblich noch immer existiere. Viele verweigern die Zusammenarbeit mit Behörden und bezeichnen sich als sogenannte Selbstverwalter. In Deutschland soll es laut Erkenntnissen des Inlandsgeheimdienstes rund 21'000 Reichsbürger geben.

Aktivitäten auch in der Schweiz

Wie gefährlich die Reichsbürgerbewegung ist, führen die Ereignisse vom Mittwoch in aller Deutlichkeit vor Augen. Wie also sieht es in der Schweiz aus? Immerhin wurden auch hierzulande bereits Aktivitäten von Reichsbürgern oder thematisch ähnlich ausgerichteten Gruppen registriert.

«Leider werden die Reichsbürger, oder besser Staatsleugner oder Staatsverweigerer, in der Schweiz nicht vom Nachrichtendienst derart beobachtet, wie das der Verfassungsschutz in Deutschland tut», schreibt Baier. Man wisse daher auch nicht, wie gross die Szene in der Schweiz sei und welche Verbindungen ins Ausland bestünden.

Kein Zweifel besteht indessen an deren Existenz, erklärt Baier. In manchen Kantonen wie etwa dem Thurgau beschäftigten demnach «selbstverwalterische Querulanten die Behörden doch recht stark».

Der Soziologe vermutet, dass die Szene in der Schweiz «weniger vernetzt ist und organisiert ein Ziel verfolgt wie die Gruppe in Deutschland».

Auch wenn die Staatsleugner nicht mit Rechtsextremen gleichzusetzen seien, gebe es eine Überlappung in Deutschland. Ähnliches lässt sich hierzulande bislang nicht feststellen: «In der Schweiz ist die Gruppierung aber sicherlich nicht mehrheitlich rechtsextrem.» Dennoch sei es wichtig, mögliche Überlappungen im Auge zu behalten.