Ukrainische Generalstaatsanwältin Die Frau, die Putin zur Rechenschaft ziehen will

Von Erika Kinetz, AP

18.4.2022

Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa sammelt akribisch Beweise und Zeugenaussagen, um die russischen Kriegsverbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. (Photo by Anatolii Siryk/Ukrainform/NurPhoto)
Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa sammelt akribisch Beweise und Zeugenaussagen, um die russischen Kriegsverbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. (Photo by Anatolii Siryk/Ukrainform/NurPhoto)
NurPhoto via AFP

Iryna Wenediktowa steht vor einer gigantischen Aufgabe: Während ihre Heimat weiter von russischen Raketen zerstört wird, ermittelt sie zu möglichen Kriegsverbrechen. Die ukrainische Generalstaatsanwältin gibt sich dabei betont kämpferisch.

Von Erika Kinetz, AP

18.4.2022

Was diese Frau antreibt, ist die Hoffnung, dass die Täter eines Tages bestraft werden könnten – von den einfachen Soldaten bis hin zum russischen Präsidenten selbst. Gerichte in vielen Teilen der Welt arbeiten daran, Beweise für Gräueltaten der russischen Streitkräfte zu sichern. Doch das Gros der juristischen Aufarbeitung wird voraussichtlich der Ukraine überlassen bleiben. Und als Generalstaatsanwältin des Landes kommt Iryna Wenediktowa dabei eine Schlüsselrolle zu.

Die 43-Jährige betrachtet diese Rolle nicht bloss als einen Job. Für sie ist es eine persönliche Angelegenheit. «Ich schütze das öffentliche Interesse der ukrainischen Bürger. Und jetzt sehe ich, dass ich diese toten Kinder nicht schützen kann», sagt die ehemalige Jura-Professorin. «Und das bereitet mir Schmerzen.»

Entsprechend geht sie ihre Aufgabe mit einer unerbittlichen Arbeitsmoral an. Sie ist die erste Frau in ihrem Amt und sie ist fast ständig unterwegs. Statt Jacketts oder Kleider trägt sie oft olivgrüne Hosen und schusssichere Westen. Mahlzeiten nimmt sie entweder hastig im Auto zu sich oder gar nicht. Sie startet ihre Arbeitstage früh und beendet sie spät.

Bereits laufen 8000 Ermittlungen

Ihr Büro hat bereits mehr als 8000 Ermittlungen eröffnet, die mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in Zusammenhang stehen. Mehr als 500 Verdächtige wurden dabei identifiziert, unter ihnen russische Minister, Militärkommandeure und Propagandisten. Die Generalstaatsanwältin will sie möglichst alle zur Verantwortung ziehen.

«Die zentralen Funktionen des Gesetzes sind die, zu schützen und zu entschädigen. Ich hoffe, dass wir das tun können. Denn aktuell gibt es bloss schöne Worte, aber keine Rechtsstaatlichkeit mehr», sagt Wenediktowa. «Es sind sehr schöne Worte. Ich möchte, dass sie Bedeutung erlangen.»

Die 43-Jährige spricht mit ausländischen Regierungsvertretern und Geldgebern. Sie koordiniert Einsätze und wirbt um Unterstützung. Zugleich fährt sie von einer Stadt zur nächsten, besucht Flüchtlingsunterkünfte im ganzen Land und an Grenzübergängen, wo sie auch Mitarbeiter postiert hat, die sich die Geschichten von Ukrainerinnen und Ukrainern anhören, um juristisch verwertbare Aussagen zu sammeln.

Mit den Zeugen ist Geduld gefragt

Die Interviews mit Zeugen können Stunden dauern. Über ihre Laptops gebeugt müssen die Strafverfolger oft die Tränen ihrer Gesprächspartner abwarten, bevor sie Fragen konkretisieren können – Fragen zum genauen Geräusch von Geschossen und zu den genauen Auswirkungen bei deren Einschlägen; Fragen zu Uniformen und Abzeichen von Soldaten. Die Antworten bilden das «Rohmaterial» für die juristische Aufarbeitung. Sie sind das erste Glied in der Kette, mit der Wenediktowa Verbindungen bis hin zur Kreml-Führung nachweisen will.

Vor einigen Tagen besuchte die Generalstaatsanwältin die westukrainische Stadt Lwiw, wo die 34-jährige Ala den Ermittlern schilderte, wie sie ihr Zuhause verlor. Ihren vollen Namen will die Frau nicht nennen, weil ihr achtjähriger Sohn noch in einem Gebiet festsitzt, das von russischen Truppen gehalten wird.

Jacke, schusssichere Weste und Baseball-Cap statt Anzug und Highheels: Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktova reist zu den Kriegsschauplätzen, um Beweise zu sammeln – vor allem Zeugenaussagen. (Photo by Genya SAVILOV / AFP)
Jacke, schusssichere Weste und Baseball-Cap statt Anzug und Highheels: Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktova reist zu den Kriegsschauplätzen, um Beweise zu sammeln – vor allem Zeugenaussagen. (Photo by Genya SAVILOV / AFP)
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Ala hat ein Fragment von einem der Geschosse aufbewahrt, mit denen ihre Wohnung in der Kleinstadt Worsel zerstört wurde – Worsel liegt nur wenige Kilometer westlich von Butscha, wo russische Soldaten Hunderte Zivilpersonen töteten. Sie hat es auf ihrer Flucht mitgenommen, als Erinnerung an das, was sie überlebt hat, aber eben auch als Beweismaterial. «Wir brauchen Belege, um sie bestrafen zu können», sagt sie. «Ich hatte Glück. Ich bin noch hier, um über das zu sprechen, was mir passiert ist.»

Internationale Zusammenarbeit

Als Wenediktowa im März 2020 von Präsident Wolodymyr Selenskyj zur Generalstaatsanwältin ernannt wurde, übernahm sie ein Amt, das Kritikern zufolge lange von Korruption und Ineffizienz geprägt war. Sie selbst präsentierte sich als Reformerin. Tausende Staatsanwälte wurden entlassen, weil sie die Standards für Integrität und Professionalität nicht erfüllten. Entsprechend muss sie nun allerdings mit einer stark unterbesetzten Institution zu mutmasslichen Kriegsverbrechen ermitteln. Und am Ende könnte es sich laut ihren eigenen Angaben um tausend Angeklagte handeln.

Wenediktowa kooperiert mit internationalen Menschenrechtsorganisationen – und mit der oft misstrauischen ukrainischen Öffentlichkeit. Im März gründeten 16 zivilgesellschaftliche Gruppen des Landes die 5AM-Koalition, um potenzielle Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Dabei wird nicht nur frei zugängliches Material ausgewertet, sondern es werden auch Netzwerke von Leuten koordiniert, die im ganzen Land Beweise sammeln und diese mit Staatsanwaltschaften teilen.

Unterstützt werden diese Gruppen von Rechercheteams aus aller Welt, wie etwa das Centre for Information Resilience, Bellingcat oder die International Partnership for Human Rights. Diese wiederum analysieren unter anderem die zahllosen Beiträge in den sozialen Medien, um Berichte über Ereignisse zu verifizieren und Verantwortliche zu identifizieren.

Darüber hinaus hat Wenediktowa Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, mit den eigenen Smartphones Material zu sammeln und über eine eigens dazu geschaffene Internet-Plattform einzureichen. Fünf Wochen nach Beginn des Krieges waren über diesen Weg bereits mehr als 6000 Beiträge zusammengekommen.

Verantwortliche sollen bezahlen – auch mit Geld

Hohe Priorität legt die Generalstaatsanwältin zugleich darauf, Zugriff auf Vermögenswerte der mutmasslichen Kriegsverbrecher zu erhalten, um damit eines Tages Entschädigungen für die Opfer ermöglichen zu können. Dabei ist sie aber noch mehr als bei den Ermittlungen auf Unterstützung von anderen Ländern angewiesen.

Kurz vor 21.00 Uhr tritt Wenediktowa im ukrainischen Fernsehen auf, so wie derzeit an den meisten Abenden. Gegenüber ihren Landsleuten gibt sie sich zuversichtlich, dass Unrecht bestraft und es für Leid Entschädigung geben werde. Sie freue sich schon auf den Sieg, «wenn wir irgendjemandes Villa oder Jacht verkaufen und gewöhnliche Ukrainer, die aus ihren Häusern fliehen mussten, diese Kompensation physisch erhalten», sagt sie.