Proteste gegen den Krieg Putins Polizei verhaftet selbst kleine Kinder

Von Philipp Dahm

11.3.2022

«Ich fühle mich traurig und deprimiert»

«Ich fühle mich traurig und deprimiert»

Passanten in Moskau beschreiben gegenüber Reuters unterschiedliche Auswirkungen auf ihren Alltag.

10.03.2022

Alte, Frauen, Kinder: Wer in Russland gegen den Krieg demonstriert, wird verhaftet. Der Protest erreicht nicht die kritische Masse, was auch Moskaus Propaganda geschuldet ist. Sogar bis in die Schweiz hallen Putins Worte.

Von Philipp Dahm

11.3.2022

Die Staatsmacht geht in Russland knallhart gegen Proteste gegen den Krieg in der Ukraine vor: Seit Beginn der Feindseligkeiten werden jeden Tag Tausende im Land verhaftet, die mit Wladimir Putins Offensive nicht einverstanden sind.

Was auffällt ist die Härte, mit der Frauen, Kindern und Alten begegnet wird. Da wäre etwa der Fall zweier Mütter, die mit ihren fünf Kindern Blumen vor der ukrainischen Botschaft in Moskau ablegen wollten und Plakate mit der Aufschrift «Nein zum Krieg» dabei hatten.

Kinder zweier Antikriegsdemonstrantinnen am 2. März auf einem Moskauer Polizeirevier.
Kinder zweier Antikriegsdemonstrantinnen am 2. März auf einem Moskauer Polizeirevier.
Bild: Alexandra Arkhipova/Facebook via «Guardian»

Die Frauen mit Namen Ekaterina Zavizion und Olga Alter wurden mitsamt ihres Nachwuchses abgeführt und in ein Revier gebracht, wo sie mehrere Stunden festgehalten wurden, berichtete der «Guardian». Die Kinder sind zwischen 7 und 11 Jahren alt: Eigentlich dürfen russische Jugendliche unter 14 Jahren nicht länger als drei Stunden eingesperrt sein. Ein Video dazu ist schwer zu ertragen: Es zeigt, wie eine der Mütter aus der Zelle heraus versucht, eines der weinenden Kinder zu beruhigen.

Ein anderer Fall ist der von Jelena Ossipowa. Die 77-jährige Kunstpädagogin aus St. Petersburg ist seit 2002 politisch aktiv, als Tschetschenen im Oktober ein Moskauer Theater überfallen und 850 Menschen als Geiseln genommen haben. Ossipowa kritisierte damals die schwache russische Zivilgesellschaft: Die Aktivistin wurde 2007 erstmals verhaftet.

Wie Frauen, Kinder und Senioren weggesperrt werden

Auch wegen ihres Widerstands gegen Putins Krieg landete sie auf dem Revier: zum ersten Mal am 27. Februar – und zuletzt am Abend des 2. März. Die Bilder der Verhaftung des Grossmütterchens gehen um die Welt.

Jelena Ossipowa ist nicht allein: Laut Website des Menschenrechtsprojekts OVD Info sind seit dem 24. Februar in 140 Städten 13'835 Menschen in Russland wegen ihres Protests gegen den Krieg verhaftet worden – Tendenz steigend. Und nicht nur bürgerliche Pazifisten halten dagegen: Kurz nach Kriegsausbruch stellen russische Wissenschaftler einen offenen Brief online, der ein Ende der Kämpfe fordert.

Am ersten Tag der Kampagne unterschreiben 600 Forscher den Aufruf. Knapp eine Woche später sind es bereits 4000 Gelehrte und am 3. März bereits 7000. Und wie reagiert der Kreml? Der stellt es unter Strafe, den Krieg einen Krieg zu nennen, und droht jenen, deren Meinung zu Putins Kampagne abweicht, mit bis zu 15 Jahren Haft.

Protest erreicht kritische Grösse nicht

Die Zahlen von 7000 Wissenschaftlern und gut 13'000 Inhaftierten sind angesichts eines Volkes von 144,5 Millionen Russinnen und Russen (ohne Krim) jedoch relativ gering: Warum gibt es nicht mehr Widerstand? Zum einen haben die Proteste noch keine kritische Grösse erreicht, weiss der «Guardian»: In Massendemonstrationen ist es leichter für den Einzelnen, in der Menge unterzutauchen.

Verhaftung einer Dame wegen ihres Protests gegen den Krieg in der Ukraine am 6. März in Moskau.
Verhaftung einer Dame wegen ihres Protests gegen den Krieg in der Ukraine am 6. März in Moskau.
EPA

Eine Studie von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan von der Columbia University hat ergeben, dass ein friedlicher Protest dann erfolgreich sein kann, wenn mindestens 3,5 Prozent der Bevölkerung mitmachen. In diesem Fall müssten also 5 Millionen auf die Strasse gehen: Davon ist Russland noch weit entfernt.

Das Problem: Die Antikriegsbewegung ist wegen der repressiven Haltung der Regierung kaum zu koordinieren. Noch schwerer wiegt jedoch die Macht der Zensur, die eine breite Information der Bevölkerung verhindert. Ein anschauliches Beispiel dafür gibt ein Video vom YouTuber Crazy Russian Dad, in dem er quasi aus Sicht der ersten Person beschreibt, wie Propaganda wirkt.

Ein Ich-Erzähler erklärt, wie Propaganda wirkt

Der Mann erinnert sich daran, wie er Anfang der 80er als junger Spund relativ gelangweilt von der sowjetischen Propaganda war. Als er dann aber hörte, dass US-Präsident Ronald Reagan sein Land 1983 ein «Reich des Bösen» nannte, sei er aus allen Wolken gefallen: «Ich dachte: Wir sind doch die Guten? Wir sind doch diejenigen, die für die Unterdrückten, die Arbeiter, für die Bauern und die Proletarier gekämpft haben? Und plötzlich nennt dieser US-Präsident uns böse: Für mich war das undenkbar.»

Was ihm bis dato eingetrichtert worden sei, habe eine bestimmte Realität für ihn erschaffen. «Und ich wusste nicht, dass es eine andere Realität gab.» Diese Erinnerungen teilt Crazy Russian Dad, weil er Parallelen zu heute sieht. Er habe seine russischen Eltern besucht, die nur das Staatsfernsehen schauen, und ein wenig zugehört. «Wie vor einigen Jahren haben sie eine alternative Realität für ihre Bürger erschaffen.»

Es sei kein Krieg, sondern eine «spezielle Operation»: «Wir sind nicht die Aggressoren, wir sind die Befreier.» Die Nato, der Westen und die USA seien schuld an der Konfrontation. Die Sanktionen und andere Reaktionen des Auslands würden bloss belegen, dass Russland von Feinden umgeben sei. Wegen dieser alternativen Realität sähen Russ*innen die Welt durch eine andere Brille, schliesst der Vortrag.

«Totaler Krieg des militärisch hilflosen Westens»

Eine Reddit-Diskussion, in der Russen gefragt werden, wie sie den Exodus westlicher Firmen erklärt, scheint diese These zu bestätigen. «Jeder weiss, was passiert», antwortet etwa ein russischer User: «Es ist der totale Krieg des militärisch hilflosen Westens gegen Russland. Er behilft sich mit den einzig verfügbaren Werkzeugen: Russophobie, Propaganda und ökonomische Blockaden.»

Ein Vater mit seiner jungen Tochter wird nach einer Demonstration am 6. März in St. Petersburg verhaftet.
Ein Vater mit seiner jungen Tochter wird nach einer Demonstration am 6. März in St. Petersburg verhaftet.
EPA

Das sei «kein Krieg, sondern bloss eine spezielle Operation – nicht anders etwa als die russische oder israelische Intervention in Syrien» meint ein anderer. «Der heuchlerische Westen hasst Russen und hilft Nazis in der Ukraine, die Russen töten. Sie wollen uns zu Tode hungern», glaubt ein Dritter. Der letzte Kommentator schreibt: «Wir sorgen uns überhaupt nicht.» Die Firmen kämen zurück und wenn nicht, sprängen Russen oder Asiaten ein.

Diese Episoden erklären, warum einer Umfrage des russischen TVs zufolge rund 70 Prozent der Befragten für Putins Kampagne sind – auch wenn solchen Resultaten nicht zu trauen ist, wie Nikita Savin von der Moskauer Wirtschaftshochschule dem australischen Sender ABC verrät. «Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zustimmung zum Militäreinsatz in der Ukraine in Russland tatsächlich geringer ist als erklärt.»

Russland sympathisiert nicht mit seinen Eliten

Die Popularität des Krieges sei wohl kleiner, doch gegen die Operation sei das Volk gewiss auch nicht. «Die Eliten sind wahrscheinlich unglücklich. Sie verlieren ihr ganzes Vermögen, aber durchschnittliche Leute werden nie mit ihnen sympathisieren.» Es sind jene Eliten, die sich noch schnell in den Moskauer Shop von Victoria's Secret drängeln, um noch Luxus-Unterwäsche zu kaufen, bevor es nicht mehr geht.

Es ist also eine Kombination aus Gründen, die dafür sorgt, dass Schüler in einem Einkaufszentrum im russischen Kazan glauben, ihren Patriotismus mit bizarren «Z»-Umhängen und einer Vorführung unter Beweis stellen zu müssen, die an den Ku Klux Klan erinnert: Propaganda, Repression, Zensur und das «Wir gegen die»-Gefühl.

Doch nur der letzte Grund erklärt ein Stück weit, warum es auch im Westen Menschen gibt, die das Narrativ des Kreml unterstützen. «Querdenker» in Deutschland und «Freiheitliche Trychler» in der Schweiz greifen Putins Propaganda bereitwillig auf: In ihrer Telegram-Gruppe behaupten sie, die Nato hätte Donezk und Luhansk seit Wochen beschossen.

Schweizer beschwören «das Ende der Meinungsfreiheit»

Andere Gruppen wie das «Aktionsbündnis Urkantone für eine vernünftige Corona-Politik» wettern gegen angebliche «Hetze gegen Russen» und gegen den «Bruch der Neutralität», weil der Bundesrat die von der EU beschlossenen Sanktionen mitträgt, weiss das Newsportal «watson». Die Abschaltung des russischen Senders RT DE bezeichnen sie als «das Ende der Meinungsfreiheit».

Diese Leute verschliessen die Augen vor der Realität. Der Schweizer Sozialwissenschaftler Marko Kovic nennt dafür mehrere Gründe: Die Show müsse für diese Gruppe nach der Pandemie weitergehen und eine vermeintliche Täuschung durch den Westen passe in ihr Bild einer Welt, die sich gegen sie verschworen habe. Sie vertrauten nicht auf Institutionen oder Journalismus, sind gegen Demokratie und feiern eben jenes «Wir gegen die»-Gefühl.

Kovic schliesst so: «Menschen in der massnahmekritischen Bewegung haben viel Zeit und Energie in ihr Weltbild investiert. Das aufzugeben, tut weh. Darum gilt: Die Show muss weitergehen; eine neue Verschwörung muss her; alles hängt mit allem zusammen.»