Blutige Proteste im Iran «Du weisst, dass du vielleicht niemals zurückkommen wirst»

Von Philipp Dahm

12.10.2022

Proteste im Iran: Schülerinnen gehen auf die Strasse

Proteste im Iran: Schülerinnen gehen auf die Strasse

Schülerinnen gehen im Iran für ihre Rechte auf die Strasse. Dabei begeben sie sich in Gefahr: Sie müssen mit Verhaftungen rechnen.

10.10.2022

Unter den mindestens 201 Opfern, die die Unruhen im Iran gefordert haben, sind auch eine 16- und eine 17-Jährige. Die Unterstützung von streikenden Öl-Arbeitern hilft, doch die Schlüsselrolle spielt das Militär.

Von Philipp Dahm

12.10.2022

Die Unruhen im Iran haben bisher mindestens 201 Menschen das Leben gekostet – darunter 23 Kinder. Das berichtet die norwegische Organisation Iran Human Rights. Dass sich die Lage beruhigt, ist auch drei Wochen nach dem Mord an Mahsa Amini nicht abzusehen.

Öffentlich macht den Fall von Amini die Journalistin Niloofar Hamedi, die für die reformorientierte Zeitung «Sharq» arbeitet. Drei Tage nach der Verhaftung von Amini fotografiert sie am 16. September die Eltern der 22-Jährigen, die sich vor dem Teheraner Spital umarmen, in dem ihre Tochter im Koma liegt, und verbreitet das Bild auf Twitter.

Sechs Tage später wird Hamedi verhaftet und ihr Twitter-Account gelöscht, wie ihr Anwalt Mohammad Ali Kamfirouzi am 22. September öffentlich macht. Die Journalisten wird demnach in Einzelhaft im Gefängnis Evin festgehalten, ohne dass Anklage erhoben worden wäre, berichtet «Reuters».

Weitere Teenager zu Tode geprügelt

Tausende sind wie sie in den letzten Wochen verhaftet worden – und weitere Unschuldige sind gestorben. So wie Sarina Esmailzadeh: Die 16-jährige Brillenträgerin ist laut Amnesty International mit einem Schlagstock zu Tode geprügelt worden.

Nika Shakarmi ist während der Proteste in Teheran am 20. September verschwunden: Die 17-Jährige wird tot aufgefunden – mit gebrochener Nase und eingeschlagenem Schädel. Die Behörden sagen, sie sei gestürzt.

Das fortgesetzte Unrecht sorgt dafür, dass der Protest nicht abebbt. «Wenn du raus auf die Strasse gehst, solltest du mit allem rechnen», erklärt ein Demonstrant auf Teheran der BBC. «Tief im Inneren weisst du, dass du vielleicht niemals zurückkommen wirst. Du könntest verhaftet und Tage, Monate oder sogar Jahre eingesperrt werden.»

Grobe Gewalt gegen Minderheiten

Die Frauen führen den Protest an, erklärt der Teheraner. «Aber das Kopftuch war nur der Funke. Es ging immer um grundlegende Menschenrechte. Wir wollen Freiheit, Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit, die Freiheit der Wahl, Versammlungsfreiheit, eine freie Presse.»

Das Regime hält mit aller Macht dagegen. Schweres Geschütz fährt Teheran in den kurdischen Provinzen des Landes auf, aus denen auch Mahsa Amini stammt. Im Mittelpunkt steht die Stadt Sanandadsch, wo ein lokaler Fall die Demonstrationen anheizt: Ein hochrangiger Polizeibeamter soll ein 15 Jahre altes kurdisches Mädchen vergewaltigt und die Familie unter Druck gesetzt haben, Stillschweigen zu bewahren.

Teheran hat nun Kampfflugzeuge und Panzer entsandt und Truppen in die Region verlegt, berichtet «Arab News». Demnach hat die Armee auch Wohnviertel unter Artilleriefeuer genommen. Die Angst vor einem Massaker ist gross: Alleine in der Provinz Sistan und Belutschista an der Grenze zu Pakistan, wo ebenfalls Minderheiten leben, sind alleine am 30. September 93 Menschen getötet worden.

«Computerspiele» und Pandemie sind schuld

Laut dem Washingtoner Institute for the Study of War ist zuletzt in 16 Städten des Landes protestiert worden. Ein Erfolg für die Demonstranten ist der Streik in Teilen der Ölindustrie, die für das Überleben des Regimes lebenswichtig ist. Wie nachhaltig die Arbeitsniederlegungen etwa in der Assalujeh-Raffinerie am Persischen Golf ist, bleibt abzuwarten.

Der stattliche Nachrichtenagentur Ilna berichtet zwar von Protest in der Ölindustrie, doch diese stünden im Zusammenhang mit der Entlassung von 20 Arbeitern, heisst es. Die Regierung sucht derweil nach Schuldigen für die Unruhen: Erst sind die USA und Israel verantwortlich gemacht worden, nun sind «sexuelle Agitation», «Computerspiele» und «Lernen zu Hause während der Pandemie» die Auslöser, schreibt «Iran Wire».

Andere Gründe, die Unterstützer des Regimes erkannt haben wollen, seien «fehlende Identität und Werte». Andere Hardliner wie Hamid Rasaee finden, «dieser Protest live im Internet» sei wie «eine Kanalisation, die überschwappt». Umso überraschender ist, dass der oberste Richter des Landes am 10. Oktober ganz andere Töne anschlägt.

Nervöse Regierung – Militär als Schlüssel

Gholamhossein Mohseni-Esche'i spricht erstmals von «Fehlern». Ausgerechnet der als besonders konservativ geltende Geistliche sagt: «Bürger oder politische Gruppen sollten wissen, dass wir ein Ohr für Protest und Kritik haben und zum Dialog bereit sind.» Das «Time»-Magazin macht deshalb Nervosität auf Seiten der Regierung aus, weil der Widerstand aus allen Bereichen der Gesellschaft zu kommen scheint.

Die Proteste im Iran halten an.
Die Proteste im Iran halten an.
Iran Human Rights

Tatsächlich erinnert die Situation ein bisschen an das Jahr 1979, als die Mullahs an die Macht gekommen sind. Auch damals gab es an Universitäten, Schulen und in der Ölindustrie Demonstrationen. Und wie damals unter Ajatollah Ruhollah Chomeini ist der Protest dezentral organisiert.

Eine Schlüsselrolle spielen Sicherheitskräfte und das Militär. Dass das auf die Linie des Volkes umschwenkt, ist vorerst aber nicht zu erwarten. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte warnt vielmehr vor einem hybriden Krieg, wenn militärische und kulturelle Bedrohungen zunehmen würden. «Wir müssen auf eine solche Konfrontation vorbereitet sein», mahnt er.