Angriffe auf russisches Kernland Je eher der Westen der Ukraine die Fesseln abnimmt, «desto eher gewinnen wir»

Von Philipp Dahm

29.1.2024

Russland meldet Brand in Öllager nach ukrainischem Drohnenangriff

Russland meldet Brand in Öllager nach ukrainischem Drohnenangriff

STORY: Amateurvideos aus der russischen Region Brjansk, nördlich der Ukraine. Hier soll eine abgefangene Drohne nach russischen Angaben ein Feuer in einem Öllager ausgelöst haben. Nach ersten Erkenntnissen habe es keine Verletzten gegeben, sagte der Gouverneur der Region am Freitag auf Telegram. Das Militär habe die Drohne durch Funk-Massnahmen abgefangen, ihre Munition sei auf dem Gelände des Klinzi-Öllagers niedergegangen. Auch zwei weitere Drohnen seien abgeschossen worden. Russischen Nachrichtenagenturen zufolge umfasste der Brand eine Fläche von 1000 Quadratmetern. Es seien Sondereinheiten der Feuerwehr im Einsatz. Eine Stellungnahme der Ukraine lag zunächst nicht vor. Die russischen Behörden in der Region berichten regelmässig über ukrainische Drohnenangriffe.

19.01.2024

Ukrainische Drohnenangriffe stören Russlands Energiesektor mehr als die Sanktionen des Westens. Wenn der Kiew endlich freie Hand bei Attacken auf russisches Territorium geben würde, würde der Krieg schneller enden.

Von Philipp Dahm

29.1.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Störung der russischen Ölproduktion: Was westliche Sanktionen nicht erreichen, besorgt Kiew mit Drohnenangriffen nun selbst.
  • Die Attacken führen zu Ausfällen, die die russischen Preise nicht nur für Treibstoff steigen lassen.
  • Moskau hat Mühe, mit der noch im Land vorhandenen Luftabwehr sein Territorium zu schützen: 18 Raffinerien sind offenbar bedroht.
  • Der ukrainische Vizeadmiral Oleksij Nejischpapa sagt in einem Interview, dass Kiew schneller gewinnen würde, wenn der Westen den Einsatz seiner Waffen nicht beschränken würde.
  • Aus Rücksicht auf Russland liefert Berlin Kiew bisher keine Taurus-Marschflugkörper.
  • «Es gibt viele Dinge, die ich ihnen nicht sagen kann»: Wolodymyr Selenskyj sagt dazu, das liege nicht allein an Olaf Scholz.

Schon wieder gibt es Luftalarm – mitten in Russland. Diesmal ertönen die Sirenen in Jaroslawl an der Wolga. Die Grenze zur Ukraine ist rund 600 Kilometer weit weg. 

Die russische Armee will eine Drohne mit elektronischen Mitteln abgefangen haben, die angeblich die lokale Ölraffinerie angreifen sollte. Auch wenn dieser ukrainische Angriff fehlgeschlagen ist, mehren sich erfolgreiche Attacken Kiews gegen die russische Infrastruktur.

Am 8. Januar gibt es eine Explosion bei einem Tankzug in Nischni Tagil im Oblast Swerdlowsk. Die Grenze zur Ukraine ist 1'600 Kilometer entfernt. Einen Tag später stürzt eine Drohne in einen Öltank im Oblast Orjol rund 150 Kilometer von der Grenze entfernt.

In Ust-Luga wird am 21. Januar ein brennendes Terminal nach einer Drohnenattacke gelöscht.
In Ust-Luga wird am 21. Januar ein brennendes Terminal nach einer Drohnenattacke gelöscht.
AP

Am 19. Januar brennt ein Öldepot in Klinzy im Oblast Brjansk rund 90 Kilometer hinter der Grenze. Zwei Tage später setzt eine Drohne Öltanks in Ust-Luga an der Ostsee im Oblast Leningrad in Brand. Sie hat um die 900 Kilometer zurückgelegt. Und am 24. Januar knallt es in der Raffinerie von Tuapse im Oblast Krasnodar, das gut 450 Kilometer hinter der Front liegt.

Russland: Drohnenattacken lassen Preise steigen

Die ukrainischen Angriffe haben Folgen – nicht nur für Russlands Militär, dessen Treibstoffnachschub behindert wird, sondern auch für die Zivilbevölkerung, weiss der ukrainische Regierungsberater Anton Heraschtschenko: Nicht nur die Spritpreise steigen ihm zufolge deshalb an, sondern auch die der Lebensmittel.

Gleichzeitig muss Russland seine Luftabwehr umstellen, um der Bedrohung Herr zu werden. Kiew hat «Putins Achillesferse» ins Visier genommen, staunt der Atlantic Council: Der Energiesektor ist verletzlich – und der Rest der Wirtschaft hängt davon ab, schreibt die Washingtoner Denkfabrik: «Die ukrainischen Drohnenattacken machen dem Kreml ernste Kopfschmerzen», so die Analyse.

Während Kiew sein grösstes Problem in der Sache – die Reichweite der Drohnen – offenbar gelöst hat, steht Russland vor dem Dilemma, dass die «schiere Grösse» des Landes eine lückenlose Luftabwehr unmöglich macht, schreibt das Atlantic Council weiter. Hinzu komme, dass entsprechendes Gerät oft in der Ukraine im Einsatz und damit nicht verfügbar sei.

18 russische Raffinerien sind bedroht

Das Carnegie Endowment for International Peace stösst ins selbe Horn: Auch diese Washingtoner Denkfabrik sieht Russlands Energiesektor durch ukrainische Drohnen bedroht. 18 russische Raffinerien, die täglich 3,5 Millionen Barrel Öl verarbeiteten, seien nun in Reichweite des Gegners: Sollte Kiew seine Angriffe fortsetzen, «werden die Konsequenzen ernst sein», lautet die Analyse.

Laut Atlantic Council werden die Reparaturen der Schäden laut gebremst, weil Moskau eigentlich auf Expertise und Ersatzteile aus dem Westen angewiesen sei, die wegen der Sanktionen Mangelware seien. Doch auch in Kiew sorgten die Amerikaner und Europäer für Frust, weil sie verbieten würden, dass ihre Waffen im russischen Territorium eingesetzt werden.

Das sieht auch Oleksij Nejischpapa so: Der Kommandeur der ukrainischen Marine sagt dem britischen Sender Sky News, dass die Ukraine militärisch schneller Erfolge feiern würde, wenn sie weiter reichende westlichen Waffen bekomme, die das Militär auch frei einsetzen könne.

«Desto eher gewinnen wir»

«Je eher die Streitkräfte die notwendigen Kampffähigkeiten und spezielle Fähigkeiten hat, die Infrastruktur des Feindes zu zerstören, desto eher gewinnen wir», versichert Nejischpapa. Würden die Begrenzungen wegfallen, würde der Krieg einen anderen Verlauf nehmen, glaubt der Vizeadmiral.

Marinekommandeur Oleksij Nejischpapa hielt im Juli 2021 eine Rede in Odessa.
Marinekommandeur Oleksij Nejischpapa hielt im Juli 2021 eine Rede in Odessa.
imago images/Ukrinform

Der 48-Jährige betont: «Wenn die Ukraine bestimmte Langstreckenwaffen bekommen würde, die tiefer im feindlichen Territorium genutzt werden könnten, würde der Feind natürlich anders agieren – auch auf dem Schlachtfeld.»

Was der Militär meint: Grossbritannien und Frankreich begrenzen den Einsatz der von ihnen gelieferten Marschflugkörper Storm Shadow und Scalp. Washington will Zurückhaltung beim Einsatz von ATACMS-Munition – und Deutschland sträubt sich nach wie vor, Kiew die Rakete Taurus zu liefern, deren Reichweite über 500 Kilometer betragen soll.

«Es gibt viele Dinge, die ich ihnen nicht sagen kann»

Auf diese Waffe wird Wolodymyr Selenskyj in einem ARD-Interview angesprochen: «Bei dieser Frage liegt es nicht an ihm persönlich», sagt der ukrainische Präsident über Olaf Scholz. «Es gibt viele Dinge, die ich ihnen nicht sagen kann. Sehr viele Dinge. Vielleicht werde ich es eines Tages können. Und es geht nicht nur um Olaf. Es geht um die Leader Europas und der Vereinigten Staaten.»

Wolodymyr Selenskyj begrüsst in Kiew die ARD-Journalistin Caren Miosga, die er zum Interview trifft.
Wolodymyr Selenskyj begrüsst in Kiew die ARD-Journalistin Caren Miosga, die er zum Interview trifft.
ARD

Es sei bequem, im Ausland zu sitzen und zu sagen, die Ukraine verteidige «gemeinsame Werte», so Selenkyj. «Aber nur die Ukrainer geben ihr Leben dafür. Und das ist sehr teuer für uns. Wir haben jetzt schon viele von unseren Helden verloren. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass wir rechtzeitig die Hilfe anderer Staaten bekommen – sei es in Form von Waffen oder finanzieller Unterstützung.»

Mit Blick auf Donald Trump sagt der 46-Jährige, Politik sei nicht von einer Person abhängig: «Es gibt einzelne Stimmen aus der Republikanischen Partei, die die Ukraine nicht unterstützen. Die grosse Mehrheit der Republikaner und Demokraten unterstützt die Ukraine. Und dafür bin ich ihnen dankbar.»

Unlogisch: Der Westen bindet Selenskyj die Hände

Der ukrainische Präsident räumt gleichzeitig ein: «Wir sind sehr abhängig von der militärischen Unterstützung der USA und den Staaten der Europäischen Union. Deutschland spielt die zweitwichtigste Rolle nach den USA.»

Dass das Ringen mit Russland an den Kräften zehrt, gibt Selenskyj offen zu. «Die Menschen sind erschöpft. Finanzen, Partner, Militärangehörige und Kinder sind erschöpft», sagt er. Er weiss aber auch: «Das Leben bringt viele Überraschungen mit sich.» Und: «Jeder Krieg hat irgendwann ein Ende.»

Am Ende ist diese Frage die wohl letzte rote Linie des Westens – nachdem in den Hauptstädten von Berlin bis Washington die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Wladimir Putin keinen Atomkrieg beginnt, nur, weil Schützenpanzer, Kampfpanzer oder Himars-Artillerie an Kiew geliefert werden.

Waffen für die Ukraine: Alle reden von «Roten Linien» – und alle überschreiten sie

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Artillerie? No-Go! Luftabwehr? Eskalation! Panzer? Grenzüberschreitung! Beim Krieg in der Ukraine werden mit Blick auf Waffenlieferungen immer wieder «Rote Linien» gezogen. Was hat es damit auf sich?

08.02.2023

Auch F-16-Lieferungen wurden schon beschlossen: Warum bremst der Westen die Ukraine immer noch aus? Selenskyj kämpft gegen Russland, während der Westen ihm gleichzeitig die Hände bindet. Logisch ist das nicht.