«Eskalation und Brutalisierung» Darum droht Kiew dasselbe Schicksal wie Grosny

Von Philipp Dahm

7.3.2022

Plünderungen, Vergewaltigungen, Mord: Nachdem Russlands Armee in Tschetschenien schwere Verluste eingefahren hat, kontert Moskau mit Gewalt, bis Grosny endlich fällt. Kiew könnte dasselbe Schicksal blühen.

Von Philipp Dahm

7.3.2022

Die Hauptstadt steht unter Dauerbeschuss. «Bis zu 65» Bomben und Granaten gehen pro Stunde auf die Eingeschlossenen nieder, während die russischen Soldaten auf dem Weg an die Front mitnehmen, was sie greifen können – «bevorzugt» haben sie es «auf Stereoanlagen, Videorecorder, Bürotechnik und Teppiche» abgesehen, schreibt der Reporter der Moskauer Zeitung «Obschtschaja Gaseta».

Nein, die Rede ist in diesem Fall nicht von Kiew, vielmehr geht es um die Vorbereitung auf den Sturm der tschetschenischen Hauptstadt Grosny um den Jahreswechsel 1999/2000 herum. Selbst Wladimir Putin sagt nach einem Besuch der Stadt im Mai 2004: «Vom Helikopter her sieht das schrecklich aus.» Grosny ist ein Trümmerfeld: Ihren Widerstand gegen die russischen Angreifer haben die Bewohner teuer bezahlen müssen.

Russische Soldaten patrouillieren am 13. Februar 2000 durch Grosny.
Russische Soldaten patrouillieren am 13. Februar 2000 durch Grosny.
Bild: Keystone

Es sind jene Tschetschenienkriege, die ein Trauma auslösen – und zwar auf beiden Seiten. Im Ersten zwischen 1994 und 1996 muss das russische Militär einerseits einen hohen Blutzoll entrichten, als es lernen muss, dass dezentral organisierte Freischärler mit einer regulären Armee nicht so einfach bekämpft werden können. Auf der anderen Seite werden allein im Januar 1995 in Grosny rund 25'000 Einwohner durch Artilleriebeschuss und Fliegerbomben getötet.

Nach dem Kriegsbeginn am 11. Dezember 1994 will Moskau Grosny innerhalb von drei Tagen einkreisen – und nach einem Monat soll der Feldzug beendet sein. Es kommt anders, sodass der Kreml beschliesst, die Hauptstadt am Neujahrstag mit vier Kampfverbänden anzugreifen, die aus unterschiedlichen Richtungen ins Stadtzentrum vordringen sollen.

Verbrennen oder erschossen werden

Die Stadt wird von 3000 Kombattanten verteidigt, die über 34 Panzer und ein paar Geschütze verfügen, schreibt der Blog OG Panzer der Schweizer Offiziersgesellschaft der Panzertruppen. Die vier russischen Kolonnen bestehen aus 6000 bis 10'000 Mann, 230 Panzern und 350 Schützenpanzern, die von 400 Artilleriegeschützen und der Luftwaffe unterstützt werden.

Artilleriefeuer im Januar 2000 nahe Duba-Yurt, das rund 30 Kilometer von Grosny entfernt ist.
Artilleriefeuer im Januar 2000 nahe Duba-Yurt, das rund 30 Kilometer von Grosny entfernt ist.
Bild: Keystone

Einer der vier Verbände wird noch vor dem Sturm auf Grosny von eigenen Flugzeugen bombardiert, wobei fünf Fahrzeuge zerstört werden. Diese Gruppe bricht die Attacke ab, während die anderen Kolonnen weiter vorrücken. «Die Strassenschluchten zwischen den mehrstöckigen Häusern waren Todesfallen für die russischen Motschützenkolonnen», erklärt OG Panzer. «Die etwa 400 Meter lange Kolonne von Panzerfahrzeugen [wurde] auf ihrer ganzen Länge aus den flankierenden Hochhäusern unter Feuer genommen.»

Erst warten die Verteidiger ab und nehmen in Grosny erst die vordersten und hintersten Fahrzeuge mit Panzerfäusten ins Visier, bevor sie sich um den so eingeschlossenen Mittelteil kümmern. «Die Russen hatten die Wahl, in den Fahrzeugen zu verbrennen, oder sich dem Feuer der Scharfschützen auszusetzen», führt der Schweizer Militärhistoriker Fritz Kälin aus.

Aufgerieben in Gronys Häuserschluchten

Es gelingt nur der 131. Brigade, den Präsidentenpalast von Grosny zu erreichen, wo sich die vier Verbände ursprünglich treffen wollten, doch dort werden sie von den Tschetschenen schon erwartet. Nur 160 Männer überleben am 1. Januar den Kampf: 20 der 26 Kampfpanzer, rund 100 der 120 Schützenpanzer und alle vier ZSU-23-Flakpanzer werden vernichtet.

Nach dem Fiasko muss Moskau seine Taktik ändern und räumt Grosny nun programmatisch von Haus zu Haus. Erst am 13. Februar endet diese Schlacht um Grosny – und selbst nach der Eroberung strömen immer wieder Kombattanten in die Stadt und fügen dem Gegner schweren Schaden zu, der viele Wehrpflichtige im Einsatz hat, die auf den urbanen Kampf völlig unvorbereitet sind.

Aus diesen Fehlern lernt der Kreml: Als der Krieg 1999 erneut ausbricht, verlegt sich Moskau darauf, Grosny täglich aus der Luft anzugreifen. Zwischen dem 23. und 28. September fliehen 60'000 Menschen aus der Stadt. Die Rebellen verlassen den Ort ebenfalls, verstecken sich im Umland und versuchen von dort, der russischen Armee zu schaden. Zwischen 60'000 und 80'000 Zivilisten und Soldaten verlieren im Zweiten Tschetschenienkrieg ihr Leben.

Plünderungen, Vergewaltigungen, Mord

Die Menschenrechte kommen in dem Konflikt umgehend unter die Räder: Zivilisten werden an Checkpoints genötigt. Plünderung und Erpressung sind die einen Untaten, während mitunter Frauen vergewaltigt und junge Männer entführt, gefoltert und ermordet werden. Grosny ist dem Erdboden gleichgemacht: Die Vereinten Nationen bezeichnen sie 2003 als die am stärksten zerstörte Stadt der Welt.

Ein Soldat füttert am 5. Oktober 1999 in Dagestan den Raketenwerfer eines russischen Kampfhelikopters.
Ein Soldat füttert am 5. Oktober 1999 in Dagestan den Raketenwerfer eines russischen Kampfhelikopters.
Bild: Keystone

Tschetschenische Kämpfer sind auch jetzt wieder im Einsatz – allerdings auf Seite der Russen: Dass sich Moskau im Zweiten Tschetschenienkrieg besser schlägt, liegt auch daran, dass ein treuer lokaler Warlord ernannt wird, der mit seinen eigenen Männern den Kampf gegen die Rebellen aufnimmt: Ramsan Kadyrow ist zwar ein radikaler Menschenfeind, aber er ist eben auch Russlands Menschenfeind.

Auch für die aktuelle Kampagne gegen die Ukraine stellt Kadyrow Soldaten – die womöglich gegen ihre Landsleute kämpfen, denn es gibt auch Tschetschenen, die auf Seiten der Ukrainer gegen die Russen antreten. Doch dass diese den Vormarsch auf Kiew abwenden können, scheint ausgeschlossen: Die Frage ist nicht, ob Putin die Hauptstadt einnehmen wird, sondern nur, wann es sein wird und wie blutig die Offensive ausfällt.

Eskalation programmiert

Was heute anders ist als vor der Jahrtausendwende: Damals wird die «Anti-Terror-Operation» gegen die Tschetschenen, die sich kulturell vom russischen Kernland unterscheiden, von der Bevölkerung gestützt. «Der Krieg hat Putins Popularität massiv gesteigert», erklärt Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen in Innsbruck, der NZZ.

Teuer erkaufter Sieg: Soldaten hissen am 1. März 2000 die russische Flagge über Grosny.
Teuer erkaufter Sieg: Soldaten hissen am 1. März 2000 die russische Flagge über Grosny.
Bild: Keystone

Doch auch wenn Russland nun gegen ein «Brudervolk» kämpfe, könnte Kiew dasselbe Schicksal drohen wie Grosny: «Putin hat keine Möglichkeit zurückzuweichen», glaubt Mangott. «Er kann nur eine Eskalation und Brutalisierung des Krieges einleiten, um seine geopolitischen Ziele zu erreichen.» Je länger der Feldzug dauere, desto mehr müsse man auch mit Gewalt gegen Zivilisten rechnen.

Und diese haben sich gerüstet: Auch Wladimir Putin wird die Filme gesehen haben, die die Bewohner Kiews beim Bau von Molotowcocktails zeigen. Er wird gehört haben, wie die Klitschko-Brüder zur Verteidigung der Stadt aufgerufen haben. Und er wird nicht wollen, dass erneut Bilder zerstörter russischer Konvois die Heimat erreichen.

Kiew im Visier: Putin muss in die Vollen gehen

Wenn Putin ein zweites Grosny für seine Soldaten verhindern will, muss er – aus seiner Sicht – in die Vollen gehen, wenn es Kiew erobert. Sprich: Den Auftakt muss dann die russische Artillerie machen, um den Bodentruppen den Weg zu ebnen – möglicherweise flankiert von Luftangriffen. Da der jedoch die Präzisionswaffen fehlen, dürften solche Einsätze viele Zivilisten das Leben kosten.

Fanal für Zivilisten: Artillerieeinsatz in Tschetschenien im November 1999.
Fanal für Zivilisten: Artillerieeinsatz in Tschetschenien im November 1999.
Bild: Keystone

Auch der viele Kilometer lange Konvoi vor den Toren der Stadt spricht dafür, dass eine konzentrierte Offensive bevorsteht. Sie bietet dem Kreml eine Chance, verhasste Gegner wie Präsident Wolodymyr Selenskyj oder eben jene Klitschko-Brüder auszuschalten, die zu Köpfen des Widerstands geworden sind. Kiew ist der erste Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, eine Marionettenregierung im Nachbarland einzusetzen.

Man kann nur hoffen, dass Kiew nicht dasselbe Schicksal ereilt wie Grosny, doch realistisch ist das nicht. Ein Unterschied aber bleibt: Während die Welt 1995 und 1999 nicht so genau hingeschaut hat, was Moskau da in Tschetschenien treibt, steht Wladimir Putin 2022 in der Ukraine unter genauer Beobachtung.