Die Wurzeln der Taliban Kinder des Zorns

Von Philipp Dahm

18.8.2021

Als die Sowjets in Afghanistan hausten, flohen Kinder nach Pakistan, wo sie in Camps radikalisiert worden sind. Es sind die Waisen von damals, die nun in ihrer Heimat das Sagen haben. Gnade kennen sie nicht.

Von Philipp Dahm

18.8.2021

24. Dezember 1979 – die Sowjets kommen. Die afghanische Regierung hat der Roten Armee nichts entgegenzusetzen, und auch die Mudschahidin haben eigentlich kaum eine Chance gegen die Panzer, Jets und Artillerie-Haubitzen.

In den Krieg hineingeboren: Mudschahidin posieren am 1. April 1984 in einem Camp an der afghanischen Grenze unweit der pakistanischen Stadt Wanna stolz mit ihren AK-47.  
In den Krieg hineingeboren: Mudschahidin posieren am 1. April 1984 in einem Camp an der afghanischen Grenze unweit der pakistanischen Stadt Wanna stolz mit ihren AK-47.  
AP

Doch die kleine Chance, die die Widerstandskämpfer haben, nutzen sie: Sie verlegen sich auf den Guerilla-Krieg und greifen die Russen nur da an, wo ihnen das Gelände taktische Vorteile verschafft – nur um sich gleich darauf wieder zurückzuziehen. In den Bergen sind die Panzer nutzlos, und auffliegende Vögel verraten den Kämpfern, wenn sich Moskaus Jets nähern.

Nur eine Waffe setzt sich in Afghanistan durch: Gunships wie die Mi-24, die gegen Gewehr-Beschuss gepanzert ist. Erst als die USA den Mudschahidin Stinger-Flugabwehrraketen liefern, fallen auch diese Todesengel wie Blei vom Himmel. Ein bis zwei Helikopter – Stückpreis um die zehn Millionen Dollar, werden bald von den 40'000-Dollar-Raketen pro Tag abgeschossen.

Minen gegen Kinder – aber nur zum Verstümmeln

Mitte der 80er Jahre beschliesst der spätere Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow, das Vorgehen zu ändern: Weil die Mudschahidin vom normalen Volk kaum zu unterscheiden ist, werden nun alle Einwohner unter Beschuss genommen. Die Menschen sollen aus dem Land oder in die Städte getrieben werden, wo sie kontrolliert werden können.

Die neue Taktik kostet zwischen 1985 und 1986 eine Million Leben: Die Sowjets beginnen, Minen in Felder zu werfen – darunter auch solche, die wie Spielzeug aussehen. Die Sprengsätze sind so konzipiert, dass sie nicht töten, sondern verstümmeln. Eine Familie mit einem kranken Verwandten, den sie pflegen muss, hat keine Zeit für Widerstand, so das Kalkül.

Russische Streumunition vom Typ PFM-1: In Afghanistan war sie hellgrün bemalt. Noch immer liegen viele dieser Antipersonen-Minen im Boden des Landes.
Russische Streumunition vom Typ PFM-1: In Afghanistan war sie hellgrün bemalt. Noch immer liegen viele dieser Antipersonen-Minen im Boden des Landes.
Bild: Gemeinfrei

Die Taktik geht insofern auf, dass sich die Einwohnerzahl von Kabul verdreifacht, während sechs Millionen Bürger aus Afghanistan fliehen, ein Grossteil davon Kinder. Ihr Ziel ist der Iran oder Pakistan. Die Männer bleiben meist zum Kampf im Land: Die Trennung der Familien verstärkt noch das patriarchale Denkmuster der afghanischen Gesellschaft.

Saudisches Geld – extremer Lehrplan

Nicht nur die Männer in Afghanistan werden vom Krieg geprägt, auch ihre Kinder in Pakistan. Länder wie die USA oder Saudi-Arabien pumpen Geld in den Kampf gegen die Sowjets, sodass der eigentlich kleine pakistanische Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) an Grösse gewinnt.

Der ISI lässt religiöse Schulen in den Flüchtlingscamps in Pakistan bauen, wo die Kinder indoktriniert werden. Durch rund 2000 solcher Madrasa genannten Einrichtungen werden um die 220'000 Kinder geschleust. Oft genug geht es in diesen Schulen auch um die Ausbildung zum Kampf, doch die saudische Doktrin des besonders strengen wahhabitischen Islams ist mindestens genauso gefährlich.

Ein Bild aus Afghanistan aus dem Jahr 1996: Viele Mütter und Kinder fliehen vor den Kämpfen nach Pakistan.
Ein Bild aus Afghanistan aus dem Jahr 1996: Viele Mütter und Kinder fliehen vor den Kämpfen nach Pakistan.
Getty Images

Im paschtunischen Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan entstehen Dutzende Fraktionen, die jeweils für sich beanspruchen, eine heilige Sache zu vertreten. Das führt dazu, dass immer extremere Ansichten propagiert werden, so dass im Wettbewerb der Religiösen das Radikale schliesslich zum Normalen wird.

Radikales wird normal

Auch nach dem Abzug der Sowjets 1988 bleiben diese Kinder noch in Pakistan, denn in ihrer Heimat stürzen die Mudschahidin zwar schnell die kommunistische Regierung, bekriegen sich dann aber von 1992 bis 1996 gegenseitig. Wegen dieses Chaos sind die Menschen in Afghanistan noch froh, als plötzlich die selbsternannten Krieger im Namen Gottes auftauchen.

Weil sie scheinbar für Ruhe und Ordnung sorgen: Vergewaltiger werden getötet und Dieben die Hand abgehackt. Es sind jene Kinder, die geflohen und radikalisiert worden sind – und nun zurückkehren, um alles Fremde zu bekämpfen. In Kandahar gelingt es den jungen Kämpfern unter Führung eines gewissen Mullah Omar, einige Bezirke zu erobern. Die Truppe nennt sich Taliban – der Plural des arabischen Wortes Talib, was Schüler heisst.

Ein Flüchtlingslager nahe Peshawar in Pakistan im Februar 2001: Einzig die Madrasa bietet einen Hauch von Bildung, Struktur und Trost in einer entwurzelten Welt.
Ein Flüchtlingslager nahe Peshawar in Pakistan im Februar 2001: Einzig die Madrasa bietet einen Hauch von Bildung, Struktur und Trost in einer entwurzelten Welt.
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Der ISI stattet die Taliban mit Waffen und Ausbildern aus und öffnet die Flüchtlingscamps. Die Taliban besetzen erst das Grenzgebiet zu Pakistan, sodass wieder Waren nach Afghanistan fliessen, die bald auch günstiger werden, weil nicht mehr jede Mudschahidin-Fraktion im von ihr kontrollierten Gebiet Zoll erhebt. Es scheint so, als würden die Taliban, die das Land vom Südosten her aufrollen, Stabilität zurückbringen. 

Vermeintliche Heilsbringer

Im September 1996 ziehen die Taliban in Kabul ein – und als der Rest Afghanistans erobert ist, zeigen die Fanatiker ihr wahres Gesicht. Frauen verschwinden aus der Öffentlichkeit, Musik, Film und Fotografie werden verboten, Fernsehgeräte zerstört und die Haltung von Haustieren untersagt. Kleiderordnungen müssen strikt eingehalten werden, Männer müssen Bart tragen und Gebetszeiten strikt eingehalten werden.

Der Westen glaubt, diese Taliban würden sich irgendwann in eine Art Staat wie den saudischen entwickeln, ist vom Zusammenbruch der Sowjetunion abgelenkt und unterschätzt das totalitäre System, das da in Afghanistan aufgetaucht ist. Erst als 1998 eine radikale Splittergruppe aus Afghanistan in Erscheinung tritt, wird Washington unruhig: Al-Qaida tötet mit zwei Bomben in US-Botschaften in Ostafrika 224 Menschen.

Taliban-Justiz: Ein angeblicher Mörder kniet am 13. März 1998 im Stadion von Kabul nieder, bevor er vom Bruder seines Opfers mit zwei Schüssen getötet wird.
Taliban-Justiz: Ein angeblicher Mörder kniet am 13. März 1998 im Stadion von Kabul nieder, bevor er vom Bruder seines Opfers mit zwei Schüssen getötet wird.
AFP via Getty Images

Der befreundete Geheimdienst ISI soll sich für die USA um die Sache kümmern, doch Islamabads Agenten haben mittlerweile an Einfluss auf die Fanatiker eingebüsst. Pakistan muss erkennen, dass die Förderung der paschtunischen Extremisten sogar zur Gefahr im eigenen Land werden könnte. Der Fanatismus, der gesät worden ist, hat teilweise auch die eigenen Leute infiziert.

Paschtunen-Fanatismus als Boomerang

Das haben wohl auch die USA lernen müssen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zieht Washington in den Krieg nach Afghanistan. Die Taliban verlegen sich auf die alte Taktik oder ziehen sich ins paschtunische Grenzgebiet zurück. Kein Wunder, dass Pakistan zehn Jahre später aussen vor gelassen wird, als es der US-Armee am 2. Mai gelingt, al-Qaida-Boss Osama bin Laden zu töten.

Einige Taliban schliessen sich im Weiteren al-Qaida an und kämpfen auch auf Schlachtfeldern wie dem Irak oder Syrien gegen den Westen, aber vernichtend geschlagen werden sie nie. 

Wer sind diese Taliban? Sie werden aus dem Krieg heraus geboren, sie werden im Exil auf die Rückeroberung getrimmt und wenn sie sich zurückziehen, dann nur, um wiederzukommen.

Das steht spätestens seit August 2021 fest.