Afghanistan Manche Kabuler fürchten Kollaps der Wirtschaft mehr als die Taliban

Von Kathy Gannon, AP

1.9.2021 - 20:55

Afghanen warten in einer Schlange vor einer Bank, um Geld abzuheben.
Afghanen warten in einer Schlange vor einer Bank, um Geld abzuheben.
AP Photo/Rahmat Gul/Keystone/

Viele Menschen in Kabul fürchten, dass die Taliban Afghanistan wieder striktesten islamischen Gesetzen unterwerfen könnten. Aber für manche ist das nicht die Hauptsorge. Finanzielle Nöte lasten schwer auf der Stadt.

Von Kathy Gannon, AP

In einer Pizzeria im Zentrum von Kabul fragen sich   Beschäftigte und Gäste gleichermassen bang, was die Machtübernahme Herrschaft der Taliban ihnen bringen wird. Aber einige sorgen sich nach eigenen Angaben mehr wegen eines möglichen Zusammenbruchs der Wirtschaft, als darüber, dass sie vielleicht künftig einen langen Bart tragen müssen – eine Praxis unter der früheren Herrschaft der militant-islamistischen Taliban.

Andere fürchten um die Zukunft ihrer Kinder oder sind immer noch  erschreckt von den panischen Szenen der vergangenen zwei Wochen am Kabuler Flughafen, als Zehntausende Ausländer und Afghanen verzweifelt versuchten, das Land zu verlassen. Auch wenn sämtliche US-Truppen das Land verlassen haben und die Luftbrücke beendet ist, denken manche weiter an eine Ausreise.

«Ich muss weglaufen, damit ich meine Familie ernähren kann», sagt zum Beispiel Mustafa, der als Bedienung in einem anderen nahegelegenen Fastfood-Restaurant arbeitet und in die Pizzeria gekommen ist, um Tee zu trinken und mit Freunden unter den Angestellten dort zu plaudern.

47 Franken im Monat

Mustafa, der wie viele in Afghanistan nur einen einzelnen Namen benutzt, muss für eine elfköpfige Familie aufkommen und spielt mit dem Gedanken, im benachbarten Iran Arbeit zu suchen. Sein Einkommen sei um 75 Prozent geschrumpft, seit die Taliban in Kabul einrollten und das Geschäft im Restaurant eingetrocknet sei, klagt der Mann. Demnach verdient er jetzt weniger als umgerechnet 47 Franken im Monat.



Auch Mohammad Jasin, der Besitzer der Pizzeria, berichtet von drastisch gesunkenen Umsätzen, und wenn das so bleibe, könne er die Miete nicht mehr zahlen. Jasin hat sich durch alte E-Mails gewühlt, auf der Suche nach einem Bekannten im Ausland, der ihm vielleicht helfen könnte, sich dort anzusiedeln. «Es ist nicht meinetwegen, dass ich wegziehen will, es geht um meine Kinder», sagt er.

Übliches Verkehrschos

Aber jenseits all dieser Sorgen und Sehnsüchte hat man in grossen Teilen der afghanischen Hauptstadt mit ihren fünf Millionen Einwohnern das Gefühl, dass zumindest eine Art Alltag zurückkehrt – ein scharfer Kontrast zu den Szenen der Verzweiflung unlängst am Flughafen. Es herrscht weitgehend wieder das übliche Verkehrschaos, und die Märkte sind wieder geöffnet. An Kreuzungen und Verkehrskreiseln stehen die selben Polizisten wie zu Zeiten der von den USA gestützten Regierung von Präsident Aschraf Ghani. Sie versuchen, meistens vergeblich, etwas Ordnung in das Durcheinander zu bringen.

Taliban-Kämpfer haben vor den meisten Regierungsgebäuden Position bezogen, manche in Tarnuniformen, andere in Schlabberhosen und langen Tuniken, der traditionellen afghanischen Kleidung. Geschäftstüchtige Strassenhändler haben es sogar zu Profiten gebracht, indem sie jetzt die Taliban-Flagge verkaufen – ein Koranvers auf weissem Grund. Schah Mohammad etwa bietet sie in verschiedenen Grössen an und verdient damit umgerechnet knapp 13 Euro am Tag. Vorher hat er Tücher zur Reinigung von Autos verkauft und damit täglich gerade mal 3,40 Euro nach Hause gebracht.



Im weitläufigen Chaman-e-Hosari-Park sieht man Jungen Cricket und Fussball spielen, Letzteres war bei den Taliban verpönt, als sie zwischen 1996 und 2001 herrschten. Riesige Wandmalereien prangen weiter auf Zementwänden, darunter die Abbildung von Frauen mit Kindern – eine Werbung für Gesundheitsfürsorge.

Finanzielle Sorgen hängen über der Stadt

Aber finanzielle Sorgen, ja Verzweiflung hängen schwer über der Stadt. Viele Gehälter sind nicht gezahlt worden. Regierungsbehörden, die Hunderttausende Menschen beschäftigen, sind kaum in Betrieb, auch wenn die Taliban einige Angestellte aufgerufen haben, zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Draussen vor der afghanischen Nationalbank stehen Tausende Schlange, versuchen, Geld abzuheben. Die Taliban haben das auf umgerechnet 170 Euro pro Woche begrenzt. 



Nurullah betreibt seit elf Jahren eine kleine Eisen- und Haushaltswarenhandlung. Seit die Taliban am 15. August die Kontrolle in Kabul übernommen haben, hat er keinen einzigen Kunden mehr gehabt, wie er sagt. Auch er kann die Miete für seinen Laden nicht mehr aufbringen. «Die Banken sind geschlossen. Alle Leute, die Geld haben, verlassen das Land», sagt der Afghane. «Keiner bringt Geld hierhin.»

Der Geschäftsmann selbst hat nach eigenen Angaben keine Chance wegzugehen und ist sich auch nicht sicher, ob er es täte, falls er die Möglichkeit hätte. Er würde auf jeden Fall bleiben, trotz Taliban, wenn sich die Wirtschaft verbessere, sagt er. «Ich bin hier geboren. Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht. Ich werde hier sterben.»

Was die vergangenen 20 Jahre mit US-Militärpräsenz in seiner Heimat betrifft, äussert sich Nurullah enttäuscht. «Amerika hat hier keinen guten Job verrichtet. Sie haben die Korruption wachsen lassen bis nichts mehr übrig war.»