Ex-Diplomat aus Belarus «Putin hängt an Lukaschenko – und verachtet ihn gleichzeitig»

Von Stefan Michel

20.1.2023

Die beiden Diktatoren am 11. März 2022 im Kreml. 
Die beiden Diktatoren am 11. März 2022 im Kreml. 
KEYSTONE

Andrei Sannikow ist Oppositioneller und ehemaliges Regierungsmitglied von Belarus. Lukaschenko wolle zwar nicht, könne aber nicht anders, als Putins Angriffspläne aus Belarus heraus zu unterstützen.

Von Stefan Michel

20.1.2023

In der Zeit, in der Putin vom KGB-Agenten zum Alleinherrscher Russlands wurde, bewegte sich der Belarusse Andrei Sannikow schrittweise in die andere Richtung.

Kurz vor Ende der Sowjetunion schloss er die Ausbildung zum Diplomaten ab. Nach der Unabhängigkeit Weissrusslands, wie das Land damals noch hiess, vertrat er dieses als Chef-Diplomat in Verhandlungen zur atomaren Abrüstung. 1995 wurde er Vize-Aussenminister. 1996 trat er aus Protest gegen die immer autoritärere Politik Alexander Lukaschenkos zurück. 

Seither kämpft er für die Demokratie in Belarus und gegen den Staatschef, der sich zum Diktator wandelte. 2010 trat Sannikow gegen Lukaschenko in den Präsidentschaftswahlen an. Noch am Abend der Wahl wurde er verhaftet und verbrachte die folgenden 16 Monate im Gefängnis, wo er misshandelt wurde. Seit seiner Freilassung 2012 lebt er im Exil.

Der Film «This Kind of Hope» erzählt seine Geschichte und die der belarussischen Demokratiebewegung. An den Solothurner Filmtagen 2023 hatte er Premiere, weshalb Sannikow in der Schweiz weilt und Interviews gibt. 

«Belarus ist ein Co-Aggressor.»

Andrei Sannikow

Belarussischer Oppositioneller im Exil

Der NZZ hat er seine Einschätzung abgegeben, welche Rolle Belarus in den Plänen des Kremls spielt. «Weissrussland ist ein Co-Aggressor», steht für ihn fest. Dies aber nicht, weil Präsident Lukaschenko die Invasion Putins befürwortet. Im Gegenteil.

«Lukaschenko mag versuchen, sich aus der Sache herauszuwinden, so wie er das immer tut. Als hätte er mit allem nichts zu tun.» Aber wenn der Befehl aus Moskau komme, mit seiner Armee an einem Angriff von belarussischem Territorium aus teilzunehmen, werde er sich nicht widersetzen, weil er gar nicht anders könne. «Das Regime verdankt seine Existenz heute einzig und allein Russland.»

Die belarussische Bevölkerung unterstütze im Unterschied zur russischen den Krieg gegen die Ukraine nicht. Das erschwere die Rekrutierung von Soldaten. Lukaschenko traue zudem der Armeeführung nicht und diese wisse, ihr wirklicher «Master» sitze im Kreml. Lukaschenko fürchte, dass die Waffen, die er seiner Bevölkerung gebe, dereinst gegen ihn gerichtet werden könnten, so Sannikow.

«Putin hält sich für sehr gebildet und Lukaschenko für einen Dummkopf»

Für Putin sei Lukaschenko nichts weiter als ein nützlicher Idiot. «Putin hängt an Lukaschenko – und verachtet ihn gleichzeitig. Er hält sich selber für sehr gebildet und Lukaschenko für einen Dummkopf.» Der belarussische Machthaber sei tatsächlich ungebildet: «Er mag es, bei Exekutionen dabei zu sein. Das sollte Ihnen alles sagen.»

Die russisch-belarussischen Manöver, die in letzter Zeit auf dem Territorium der Ex-Sowjetrepublik stattgefunden haben, seien nichts anderes als die Vorbereitung auf einen Angriff von dort aus auf die Ukraine. Putin warte nur auf den richtigen Zeitpunkt.

Bereits jetzt sei Belarus in die russische Invasion involviert, indem mobilisierte Sträflinge dort ihre militärische Ausbildung erhielten. Zudem würden verletzte Soldaten in belarussischen Spitälern gepflegt. Und zwar in so grosser Zahl, dass Einheimische keine Behandlung mehr erhielten, beschreibt Sannikow.

Der Kreml plant Angriff auf West-Ukraine von Belarus aus

Seit mehr als zehn Jahren übten Belarus und Russland einen militärischen Angriff auf Europa. Sannikow zitiert Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater von US-Präsident Carter und einer der einflussreichsten Analysten des Kalten Krieges sowie der Jahre danach. Dieser hat die Ukraine einen Sicherheitspfeiler der europäischen Sicherheit genannt, in einem Buch, das 1997 erschienen ist.

Sannikow führt aus, er habe Brzezinski – der 2017  gestorben ist – getroffen und zu ihm gesagt, er sei mit dieser Einschätzung einverstanden, aber Belarus sei der Achsnagel, der alles zusammenhalte.

Was aktuell in Belarus geschehe, sei keine Übung: «Jetzt kommt die Vorbereitung für eine nächste Phase des Krieges.» Einen Angriff von Belarus auf die Ukraine sieht auch das Institute for the Study of War als mögliches Szenario, aber wohl nicht vor Ende 2023.