Experte ordnet ein Was hätte Putin von einem Raketenangriff auf Polen?

Von Gil Bieler

16.11.2022

Weltweite Besorgnis nach Raketeneinschlag in Polen

Weltweite Besorgnis nach Raketeneinschlag in Polen

Der Einschlag einer Rakete in einem polnischen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine hat in Warschau und bei den westlichen Verbündeten Polens grosse Besorgnis ausgelöst. Die polnische Regierung erklärte, die Rakete stamme offenbar aus «russischer Prod

16.11.2022

Der Raketeneinschlag in Polen beunruhigt die Welt – und wirft Fragen auf: Was hätte Kreml-Chef Wladimir Putin von einer Eskalation? Wie ist die Reaktion des Westens zu verstehen? Ein Konfliktforscher ordnet ein.

Von Gil Bieler

16.11.2022

Raketenbeschuss auf Polen – und damit auf ein NATO-Mitglied. Was genau zu den Ereignissen vom Dienstag geführt hat, ist immer noch unklar. Fest steht einzig: Der Krieg in der Ukraine hat eine dramatische Eskalation erfahren. Denn trotz der vielen Fragezeichen – oder vielleicht gerade deswegen – versetzt der tödliche Vorfall alle Parteien in helle Aufregung.

Die polnische Regierung hält fest: Eine «Rakete aus russischer Produktion» schlug im ostpolnischen Dorf Przewodow ein, nur sechs Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Sie traf einen Landwirtschaftsbetrieb, zwei Menschen kamen ums Leben. Erste Hinweise deuten laut US-Präsident Joe Biden auf ein Geschoss des Flugabwehrsystems S-300 hin. Dieses setzt auch die ukrainische Armee zur Luftabwehr ein.

Wer die Rakete abgefeuert hat, ist unklar. Ex-Kreml-Chef Dmitri Medwedew wittert eine Inszenierung des Westens, die Russland in die Schuhe geschoben werden solle. Die USA, aber auch Polen und die Türkei bemühen sich um Ruhe: Es sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden.

NATO spricht von ukrainischer Rakete

Die NATO hat nach Angaben ihres Generalsekretärs Jens Stoltenberg keine Hinweise darauf, dass der Raketeneinschlag in Polen ein vorsätzlicher Angriff war. Nach vorläufigen Analysen sei der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Flugabwehrrakete verursacht worden, die gegen russische Angriffe mit Marschflugkörpern eingesetzt worden sei, sagte Stoltenberg am Mittwoch. Es gebe keine Hinweise, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die NATO vorbereite. (sda)

Auch Lars-Erik Cederman, Professor und Konfliktforscher an der ETH Zürich, betont im Gespräch mit blue News: Die Details und Hintergründe des Raketeneinschlags lägen noch im Dunkeln, man könne erst Mutmassungen anstellen. Dennoch gebe es zumindest denkbare Gründe, was sich der russische Präsident Wladimir Putin von einer möglichen gezielten Eskalation erhoffen könnte.

«Fest steht, dass sich Putin in einer verzweifelten Lage befindet. Denn auf dem Schlachtfeld können derzeit nur die ukrainischen Truppen Erfolge erzielen», sagt der Sicherheitsexperte.

«Womöglich will Putin den Westen in Angst versetzen.»

ETH-Professor für Internationale Konfliktforschung, D-GESS, seit 2003.

Lars-Erik Cederman

Konfliktforscher an der ETH Zürich

Was könnte Russland mit solch einem Angriff überhaupt bezwecken? Dazu sagt der Forscher: «Womöglich will Putin den Westen in Angst versetzen. Dadurch könnten die westlichen Partner der Ukraine den Druck auf Kiew erhöhen, rasch einer Friedenslösung zuzustimmen – und Russland könnte die bisherigen Erfolge absichern.»

Auch die wiederholten Drohungen mit einem Einsatz von Atomwaffen dienten dem Zweck, den Krieg zu einem möglichst raschen Ende zu bringen. Die US-Regierung führe im Hintergrund bereits Bemühungen, Kiew zu Friedensverhandlungen zu bewegen, sagt Cederman.

Natürlich könne er nicht in Putins Kopf blicken, und diese Eskalationsstrategie wäre mit hohem Risiko verbunden. «Doch Putin hat schon mehrfach bewiesen, dass er das Risiko nicht scheut.»

Dass sowohl die polnische Regierung als auch US-Präsident Biden in ersten Reaktionen vermieden haben, den Kreml verantwortlich zu machen, sei «mehr als verständlich», sagt Cederman: «Alles andere wäre fahrlässig.» Denn auch zehn Monate nach Kriegsbeginn gelte: «Die NATO hat keinerlei Interesse an einem direkten Konflikt mit Russland.» Die Folgen wären zu schwer abzuschätzen.

Polizei und Rettungskräfte fahren am Landwirtschaftsbetrieb im polnischen Przewodow vor, nachdem eine Rakete eingeschlagen hat.
Polizei und Rettungskräfte fahren am Landwirtschaftsbetrieb im polnischen Przewodow vor, nachdem eine Rakete eingeschlagen hat.
Bild: AP