Selbst aus Amt gehievt Draghi-Manöver kann Italien in Chaos stürzen

Von Manuel Schwarz und Johannes Neudecker, dpa

21.7.2022 - 06:35

Italiens Ministerpräsident Mario Draghi am Mittwochabend in der kleinen Parlamentskammer in Rom. 
Italiens Ministerpräsident Mario Draghi am Mittwochabend in der kleinen Parlamentskammer in Rom. 
Bild: Keystone/AP Photo/Gregorio Borgia

Mario Draghis Regierungsmehrheit in Italien ist zerbröselt. Das könnte dramatische Folgen haben für ein Land, das derzeit ohnehin einige Krisen zu bewältigen hat. Auch Europa muss zittern. Dabei hat Draghi sich das Schlamassel auch selbst eingebrockt.

21.7.2022 - 06:35

Mario Draghi rang sich ein Lächeln ab, schüttelte ein paar Hände und verschwand dann aus dem Senatssaal in Rom. Eigentlich hatte er in der kleinen Parlamentskammer einen letzten, verzweifelten Versuch gewagt, seine Regierung in dieser absurden Sommer-Krise doch noch zu retten. Dann aber kassierte der 74-Jährige eine derart heftige Schlappe, dass sein Aussenminister Luigi Di Maio von einem «schwarzen Kapitel für Italien» sprach. Dieser Mittwoch könnte umwälzende Folgen haben nicht nur für das Land, sondern auch Europa.

Der erfahrende Ökonom und national wie international sehr hoch angesehene Ministerpräsident hat sich praktisch selbst aus dem Amt manövriert. Sein unbedingter Wille, sämtliche Abgeordneten der Vielparteienregierung auf Linie zu bringen, wurde ihm zum Verhängnis.

Nun machen sich die postfaschistischen Fratelli d'Italia um Giorgia Meloni bereit, bei möglichen Neuwahlen die Macht zu erringen. Diese hatte Draghi als einzige nennenswerte Partei nicht in der Regierung.

Vertrauensabstimmungen faktisch gewonnen

Das Skurrile ist: Beide entscheidenden Vertrauensabstimmungen im Senat hatte Draghi faktisch gewonnen. In der Vorwoche aber reichte ihm das Fernbleiben der Fünf-Sterne-Senatoren, um seinen Rücktritt einzureichen. Und zu den Sterne-Populisten gesellten sich dann beim zweiten Votum auch noch die Mitte-Rechts-Parteien Forza Italia und Lega. Die Regierungsmehrheit des im Corona-Februar 2021 eingesetzten früheren Chefs der Europäischen Zentralbank ist zerbröselt.

Von den insgesamt 321 Mitgliedern des Senats sprachen nur 95 Draghi das Vertrauen aus, weniger als ein Drittel. 38 waren dagegen, der Rest – vor allem Senatoren der Sterne, der Lega und von Forza Italia – gab kein Votum ab. Was für ein Zeichen! «An diesem Tag des Wahnsinns entscheidet das Parlament, sich gegen Italien zu stellen», schimpfte der Chef der Sozialdemokraten, Enrico Letta.

Dabei hatte Draghi in einer für einen Banker ungewöhnlich energischen und emotionalen Rede am Vormittag noch an die Abgeordneten appelliert, zum Wohle des Landes die Differenzen zu überwinden. Er machte deutlich, dass er als nicht gewählter Aussenseiter nur dann an der Regierungsspitze bleiben kann, wenn alle relevanten politischen Kräfte ihn unterstützten – sonst habe er keine Legitimation.

Zugeständnisse an die Zweifler machte er dabei aber nicht. Lega und Forza Italia hatten ihr Ja in der Vertrauensfrage an einen Rauswurf der Fünf Sterne aus der Regierung gekoppelt. Und die Sterne hatten gleich mehrere Forderungen an Draghi, darunter auch die kurios anmutende Bedingung, in Rom keine Müllverbrennungsanlage zu bauen.

Italien droht nun im politischen Chaos zu versinken, just in einem Sommer, in dem das Land ohnehin geplagt wird: von einer historischen Dürre und grosser Hitze, landauf lodernden Waldbränden, steigenden Infektions- und Todeszahlen in der Corona-Krise und den Folgen des Krieges in der Ukraine mit extremen Energie- und Rohstoffpreisen.

Überraschenderweise reichte Draghi nach der Klatsche im Senat seinen Rücktritt bei Staatspräsident Sergio Mattarella noch nicht am Mittwochabend ein – ein erstes Gesuch hatte Mattarella in der Vorwoche noch abgelehnt. Medienberichten zufolge könnte der Schritt am Donnerstag folgen, wenn Draghi auch im Abgeordnetenhaus, der grösseren der zwei Parlamentskammern, vorstellig werden muss.

Was dann folgt, ist völlig offen: Der Staatspräsident kann einen anderen Experten von aussen bestellen, um nach einer Mehrheit im Parlament zu suchen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Mattarella die Kammern auflöst und Neuwahlen im Herbst anordnet. Auf jeden Fall droht dem Mittelmeerland, das sich unter Draghi gemausert hatte, wirtschaftlich gut da stand, dank seiner Impfkampagne vom Corona-Sorgenkind zum Vorbild wurde und sein jahrzehntelanges Chaos-Image abzulegen schien, ein politischer Stillstand.

Ein «Ballett der Unverantwortlichen gegen Draghi» habe eine Lage provoziert, dass nun ein «perfektes Unwetter» drohe, schrieb der EU-Kommissar und frühere Ministerpräsident Paolo Gentiloni bei Twitter. «Jetzt ist die Zeit, an Italiens Seite zu stehen. Wir stehen vor schwierigen Monaten, aber wir sind ein grossartiges Land.»

Der EU-Wirtschaftskommissar weiss genau, wovon er spricht. Italien muss nämlich etliche Reformen umsetzen, um Dutzende noch ausstehender Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu bekommen. Ob das überhaupt möglich ist inmitten eines drohenden Wahlkampfs, der angesichts der jüngsten Ereignisse scharf geführt werden dürfte? Einige Reformen hatte bislang noch nicht einmal der energische Draghi bekommen.

International könnte Italien an Einfluss verlieren, den Draghi dank seines Renommees gefördert hatte. Er hatte sein Land in vielen Bereichen auf Augenhöhe mit Deutschland und Frankreich gehievt, was sich nicht zuletzt am gemeinsamen Besuch mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron in Kiew manifestiert hatte.

Wie sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin ticken, das muss sich zeigen. In Umfragen wird dem Mitte-Rechts-Block derzeit ein Sieg bei möglichen Wahlen prophezeit – stärkste Kraft dürften dann die rechtsextremen und postfaschistischen Fratelli d'Italia werden. Parteichefin Meloni zeigte sich am Mittwochabend, nur Minuten nach der vernichtenden Vertrauensabstimmung gegen Draghi, bereit für eine Regierungsübernahme. «Ich habe meine Vorstellungen, wie dieses Land zu regieren ist», sagte sie bei einer Veranstaltung in Rom.

Von Manuel Schwarz und Johannes Neudecker, dpa